Sophia und das letzte Gericht

Sophia sammelte einst Steine. Große und kleine, raue und glatte, farbige und unscheinbare, dunkle und helle, edle und unedle. Die Menschen waren neugierig, was sie mit den vielen Steinen machen wolle, aber niemand konnte es herausbekommen, denn Sophia schwieg, wenn man sie fragte.

Nur ein kleines Kind hatte mehr Glück bei ihr. Es hatte geholfen, die Steine mit einer Bürste und viel Wasser zu reinigen. Dabei freute es sich über den Glanz, den sie bekamen, und über die schönen Körnungen und seltsamen Zeichnungen, die sie erkennen ließen.

Viele aber fand es auch dunkel und hässlich. Doch diese wegzuwerfen, wie es gerne getan hätte, wurde ihm nicht erlaubt.

Als die Arbeit fertig war, nahm Sophia das Kind an die Hand und ging mit ihm in eine große Halle, die es vorher noch nie gesehen hatte. Sie war voller Licht und so groß, dass das Auge die Wände und das Dach gar nicht wahrnehmen konnte.

Der Boden der Halle war bedeckt mit Papier von Zeitungen und Zeitschriften. Auch Bücher lagen darauf verteilt, in denen kluge Schriftgelehrte das letzte Gericht Gottes über die Menschen beschrieben hatten.

Das Kind wurde ängstlich vor all den vielen Zeitschriften und Büchern und packte die Hand Sophias fester. Die aber beugte sich zu ihm herunter, und beide zusammen räumten einige der Zeitungen und Bücher beiseite, sodass ein Stück von dem richtigen Fußboden frei wurde und zu sehen war.

Da lagen nun all die Steine, die Sophia und das Kind gereinigt hatten, in wunderbaren Ornamenten zusammen. Jeder einzelne befand sich in der Nachbarschaft von anderen, die seine besondere Schönheit und Einmaligkeit voll zur Geltung brachten. "Weißt du nun, weshalb ich keinen Stein wegwerfen will?"

"Ja, ich glaube, damit du genug hast, und mit ihnen diese schönen Linien und Kreise machen kannst."

"Richtig. Stell dir mal vor, wir hätten nur weiße oder nur schwarze Steine hierher gebracht. Das wäre doch sehr eintönig und langweilig. Oder wie sollten wir diesen funkelnden Edelstein überhaupt wiederfinden, wenn hier nur solche Steine lägen. Er braucht einen Rahmen von einfachen Steinen. Diese aber werden umgekehrt durch ihn schöner. So ist kein Stein überflüssig. Wir brauchen jeden für unser Mosaik, das uns die vollendete Welt zeigen soll."

Oskar Herwartz 1992


Hier den Text als pdf herunterladen