Oskar Herwartz: Johanna, Nachtrag zum Buch

Natürlich hatte ich erwartet, Johanna würde mir auch das erzählen, was nach dem Pfingstfest nun geschah. Ich hatte eine Menge Fragen:

Zum Beispiel wollte ich gerne wissen, wie das praktische Leben der Jünger aussah. Wie sie den Zustrom von so vielen neuen Mitgliedern zu ihrer Gemeinschaft verkrafteten. Oder: Wie und wo feierte sie Eucharistie? Alle zusammen? Oder in einzelnen Gemeinden, die sich um die einzelnen Aposteln bildeten? Wer taufte die Tausenden? Und wo? Und Wie?

Noch viele andere Fragen hatte ich! Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurden es!

Aber Johanna kam nicht! Viele Wochen lang nicht!

Dann auf einmal war sie wieder da.

Keine einzige meiner Fragen fiel mir in dem Augenblick ein. So überrascht war ich.

So fragte ich recht dümmlich:

"Wo bist du?"

"Na bei dir. Merkst du das nicht?

"Doch natürlich," stotterte ich. Eben wollte ich genau so dumm, unser nichtsfragendes "Wie geht es dir" hinzusetzen. Doch ich kam nur bis zum "Wie ...", da lachte sie und sagte: "Glücklich bin ich! Ich lebe mit dem, von dem ich dir erzählt habe."

"Du allein?"

"Aber bei Jesus kam doch gar nicht allein sein! Nein, meinst du, Wir lebten irgendwo auf einer hübschen Wolke und langweilten uns? Wir leben! Wir leben bei dem, von dem alles Leben ausgeht, der das Leben selbst ist."

"Und wer ist noch bei dir?"

"Ich lebe mit meinen Nächsten, mit meinem Mann, meinen Kindern, meinen früheren Dienern, mit Maria aus Magdala, mit anderen Frau en, mit Thomas und den anderen und überhaupt mit allen, die bei Jesus glücklich sind."

"Also lebt ihr in 'Gottes Neuer Welt', die Jesus verkündet hat?" warf ich ein.

"Weißt du, vielleicht gibt dieses Wort unser Leben doch nicht ganz so gut wieder. Lass es uns einmal mit 'Gottes ursprünglicher Welt' versuchen!"

"Kannst du mir davon erzählen?"

Mit dieser Frage hatte ich all' die anderen, die ich ihr hatte stellen wollen, vom Tisch gewischt. Johanna lächelte, als ob sie mich nun da hatte, wo sie mich hatte haben wollen.

"Gerne" antwortete sie "Wenn das auch viel schwerer ist, als das, was ich dir bisher erzählt habe."

"Dann freue ich mich und habe auch gleich eine Frage: Du sagst, ihr lebt. Aber leben heißt doch, etwas tun! Heißt doch kreativ sein! Wie ist das bei euch?"

"Genau so ist es! Du musst bedenken, jeder von uns hat aus seinem Leben in eurer Welt alle Erfahrungen, alle Begabungen, alle Hoffnungen, Sehnsüchte, alle Liebe mitgebracht. Dies alles kann er nun nutzen, um zu dem zu werden, der in seiner Person einmalig von Gott geschaffen wurde."

"Ach so, eine Art vollkommener Selbstverwirklichung?"

"Wenn dir das Wort gefällt, will ich es gelten lassen, nur darfst du darunter keinen Narzissmus, keine Ichbetrachtung verstehen, sondern ein vollkommen werden durch die Liebe Gottes. Also, weil der Mensch sich von Gott geliebt weiß, und darum sein ganzes Wesen Gott darbietet. Aber niemand ist dabei allein. Jeder erfährt die Hilfe anderer und leistet auch Anderen Hilfe. Auch euch, die ihr noch in der Begrenztheit eurer Welt lebt! Und das Ziel all dieser unzähligen einzelnen Bestrebungen ist, mitzuwirken bei der Bestrebung aller, die mit den ihnen geschenkten Begabungen die Schöpfung Gottes für sich selbst, wie auch für uns alle und wie auch euch erfahrbar zu machen. Der Antrieb dazu erneuert sich immer wieder durch das Glück, Gott näher zu kommen. Seine Schöpfung, seine Gerechtigkeit, seine Barmherzigkeit, seine Liebe ist immer neu die Ursache unseres Glückes. Sowohl des einzelnen, wie der ganzen Gemeinschaft."

"Damit werdet ihr ja mal fertig sein. Was dann?"

"Frag doch einmal einen Künstler in deiner Welt, wann er fertig ist mit seinem Werk! Er wird dir antworten: 'Nie werde ich fertig sein!' Wie sollte der Schöpfer 'fertig' sein! Er ist unendlich. Wir brauchen nicht zu fürchten, ihn je auszuschöpfen." Sie unterbrach sich für eine kurze Zeit, dann fügte sie hinzu:

"Verstehst du, was ich mit dem Ausdruck 'Gottes Ursprüngliche Welt' meine? Es ist die Welt vor dem Sündenfall im Paradies. Damals versuchte der Mensch, von sich aus hinter die Geheimnisse Gottes zu kommen. Und ihr versucht das immer noch mit der gleichen Naivität und Anmaßung. Wir dagegen folgen glücklich der Einladung Gottes und vertrauen uns ihm vollkommen an."

Sie schwieg wieder, und auch ich hing meinen Gedanken nach. Irgendwie sah ich eine unübersehbare Menge von Menschen vor mir die alle rastlos arbeiteten.

Sie schien meine Gedanken zu spüren, denn sie fuhr fort:

"Arbeiten darf man das nicht nennen. 'Tätigsein' scheint mir das richtigere Wort. Lass es mich mit einem Vergleich versuchen: So wie Forscher um seines Zieles willen, der Sportler um seines Sieges willen, der Bergsteiger um seines Gipfelglückes willen alle Mühen freudig hinnimmt, so macht uns schon die Tätigkeit glücklich."

Das glaubte ich verstanden zu haben, aber bald wurde ich wieder skeptisch.

"Verzeih, wenn ich jetzt etwas Praktisches frage! Wie ist denn diese riesige Menschenmenge strukturiert, wo ist die Befehlszentrale, wer macht die Programme?"

"Jesus hätte mir auf diese Frage wieder geantwortet, ich sei eine richtige Beamtenfrau. Nein, es gibt keine Strukturen, keine Hierarchie, kein Oben und Unten. Der Vater ist die schöpferische Mitte, um die sich alles dreht. Jesus ist das Wort des Vaters, mit dem er uns anspricht. Er ist zugleich einer von uns. Der Geist Gottes ist es, der alles bewegt und mit lebendiger Energie erfüllt."

"Du lässt in meiner Vorstellung ein riesiges Rad entstehen. Dieses Rad beginnt sich zu drehen immer schneller und schneller. Zuletzt fliegt es in alle Richtungen auseinander."

"Du nimmst dein Bild zu wörtlich. Deine Logik führt es und dich selbst ins Absurde."

"Aber ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Diese riesige Menge Menschen ohne straffe Organisation, ohne Arbeitsplan, ohne Regie."

"Aber bedenke, jede Organisation, jeder Plan würde doch die Freiheit des Einzelnen beschränken. Gottes Schöpfung zielt aber auf den freien Menschen, der sich im Dienst an seinen Mitmenschen in die große Gemeinschaft einordnet."

"Ja, schon aber..."

"Vielleicht hilft dir eine andere Erfahrung in deiner Welt, Bitte überziehe aber den Vergleich nicht wieder: Denk dir einen Biotop. Da wachsen viel einzelne Lebewesen, jedes nach seinem ihm innewohnenden Bauplan, das heißt doch nach seiner Begabung, auf. Alle Lebewesen wirken an der Gestalt des Biotops auf ihre Weise mit. Diese Gestalt ist daher Ergebnis vieler, oft sehr vieler Einzelentwicklungen, die insgesamt miteinander im Gleichgewicht stehen. Keines der Lebewesen lebt für sich allein, sondern immer auch im Dienst für andere und ist selbst auf andere angewiesen. Wenn du das schon in der unbewussten Natur beobachten kannst, warum kannst du dir das nicht in einer Gemeinschaft von Menschen vorstellen?"

"Hm..."

"Du musst bedenken, wir alle sind getragen von der Begeisterung für Gott und seine Schöpfung, um einen anderen Ausdruck für Gottes- und Nächstenliebe zu gebrauchen. Diese Begeisterung treibt zu immer weiteren Diensten, zu immer neuen Erlebnissen in immer neuen Räumen und Geheimnissen."

Sie war selbst wirklich mitgerissen von ihrer Begeisterung und sie steckte auch mich an. Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort:

"Wir sind doch alle wie Brüder und Schwestern. Niemand lebt ohne die anderen, und niemand lebt ohne anderen zu helfen."

"Helfen, helfen, sagst du! Wozu denn nur?"

"Ich glaube, ich sagte es schon. Lass es mich noch einmal versuchen: Kein Mensch ist vollkommen. Kein Mensch gleicht dem anderen. Kein Mensch kann für sich allein leben. Wir helfen uns gegenseitig, vollkommener Mensch zu werden. Vollkommener in seiner Gerechtigkeit, vollkommen in seinen Einsichten, in seiner Barmherzigkeit, In seiner Armut, in seinem Dienen, in seiner Freude. Gott hat uns alle nach seinem Bilde geschaffen, nun streben wir danach, seinem Bilde zu entsprechen. Als Einzelne, als Gemeinschaft. als Menschheit."

"Und dazu trägt jeder bei? Mit seiner Lebenserfahrung, seiner Kultur, seinem Glauben; seinen Träumen, seinen Leiden, seiner Hilflosigkeit, seiner Armut, seiner Geschicklichkeit, seiner Begabung, seinem Humor, seinem Charisma?"

"Ja, so ist es, Auch Jesus hat seine Wunden bei seiner Auferweckung nicht zurückgelassen und erst recht nicht seine Freude!" Sie schwieg und auch ich sagte einige Zeit nichts mehr. Geduldig wartete sie, bis ich mit meinen Gedanken bei einer weiteren Frage angekommen war:

"Sag mal ehrlich, wer kommt eigentlich dorthin in die 'Ursprüngliche Welt Gottes'?"

"Oh weh, da werde ich dir kaum eine befriedigende Antwort geben können. Aber ich werde es versuchen..."

"Na, vielleicht gibt es so etwas wie einen Numerus clausus. Hier verbreiten manche Leute solche Ansichten und sie glauben die Schrift hinter sich zu haben. Ich bin ja wirklich betroffen. Es interessiert mich schließlich, ob ich einmal in Gottes Welt ankommen, oder ob ich dazu kaum Aussichten haben kann."

Ehe sie antworten konnte, setzte ich hinzu:

"Und bei einigen Menschen, die ich so kenne, oder von denen ich gehört habe, möchte ich auch gar nicht wünschen, mit ihnen zusammen zu leben."

"So so! Da gibt es dann vielleicht auch Leute, denen du nicht gönnst, dass sie den Weg zu Gott gefunden haben. Aber ernsthaft: Nein, es gibt keinen Numerus clausus! Und: Ich kenne Niemanden, von dem ich behaupten könnte, er sei nicht bei uns."

"Willst du wirklich sagen, dass Herodes, Judas, Pilatus, Kaiphas und wie die Schufte bis auf den heutigen Tag heißen, alle in Gottes Reich sind?"

"Bedenke eins: Gottes Gerechtigkeit duldet nicht das kleinste Unrecht in seiner Gegenwart. Ginge es ausschließlich nach ihr, wäre niemand in seinem Reich. Aber kein Reich kann nur auf Gerechtigkeit basieren."

"Da könntest du recht haben!"

"Gottes Barmherzigkeit duldet keine Traurigkeit. Er will ein immerwährendes Fest. Wie aber sollte ich nicht traurig sein, wenn ich wüsste, dass einer meiner Lieben, weil er ein Sünder ist, nicht bei mir sein kann."

"Auch verständlich. Aber wo kämen wir hin, wenn jede Bosheit, jede Gemeinheit durch Barmherzigkeit zugedeckt würde!"

"Sieh', hier stehen wir vor einem Geheimnis Gottes, das wir nicht lösen können. Alle Menschen, die behauptet haben, sie wüssten, was Gut und Böse ist, und seien darum zum Richteramt über alle Menschen befähigt, haben ganze Völker ins Verderben geführt.

Gott allein kann die Diskrepanz zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit lösen. Er tut das für jeden einzelnen Menschen in einzigartiger und vollkommener Weise. Auch für dich, darauf kannst du dich verlassen."

"Wenn ich daran denke, kommt es mir vor, als ginge ich auf eine tödliche Gefahr zu, gleichzeitig habe ich allerdings auch Hoffnung. Beides ist berechtigt. Der Böse fügt nicht nur anderen Wunden zu, sondern auch sich selbst. Ich habe Menschen gesehen, die Narben solcher Verwundungen an sich trugen, die sehr schmerzten."

"Selbst bei euch noch?"

"Ja, ich erzählte doch, dass wir uns alle helfen, zu den Menschen zu werden, den Gott geschaffen hat. Die mit den schweren Narben bedürfen der meisten Hilfe, und es gibt Niemanden, der keiner Hilfe bedarf."

"Ich weiß, wieviel Hilfe man benötigt, wenn man sein Leben nur ein ganz klein wenig ändern möchte."

"Ich glaube, du hast mich verstanden."

Wieder trat Schweigen ein. Meine Phantasie ließ mich in der Welt, von der Johanna erzählt hatte, spazieren gehen. Erst nach einiger Zeit fiel mein Blick auf unsere Welt zurück. Statt der schönen Harmonie, statt Nektar und Ambrosia sah ich plötzlich Katastrophen und Gemeinheiten, stinkende Kloaken und schreckliche Krankheiten, sah ich Angst und Hunger, Habgier und Grausamkeit. Meine Frage fiel deshalb ziemlich vorwurfsvoll aus:

"Unsere Welt seht ihr wohl überhaupt nicht? Das Elend bei uns müsste euch doch auch betroffen, sogar traurig machen."

"Macht es dich denn traurig?"

"Doch, manchmal. Meist aber werde ich wütend, wenn ich an das Elend in der Welt denke!"

"Leider ist das durchaus keine verbreitete Haltung. Sonst sähe es anders aus. Aber ich will nicht mit dir rechten, ob und was getan werden könnte. Es ist eure Sache, eure Welt so zu ordnen, dass keine Not herrscht, und ihr hättet auch die Mittel dazu!"

"Aber es gibt doch auch Unglücksfälle, die nicht uns Menschen angelastet werden können."

"So ist es. Lass uns erstmal von denen sprechen: Sieh', schon das einfachste Leben ist so geartet, dass es sich den von der leblosen Natur vorgegebenen Bedingungen anpassen muss. Das geschieht immer unter vielen Opfern. Jede Höherentwicklung verlangte immer neue Opfer, sogar den Tod immer neuer Generationen, ja ganzer Arten und Stämme als Voraussetzung für das Leben der nachfolgenden Generationen und Arten. Der Kampf um das Leben und seine Weitergabe ist die Motivation immer neuer Gestalten."

"Und du meinst, der Mensch setze diese Linie fort?"

"Ja, das ist ja auch offenkundig so. Nur der Mensch lernt immer mehr, die natürlichen Gegebenheiten nicht einfach hinzunehmen. Er kämpft dagegen an und siegt in vielen Fällen. Oft nicht sofort, aber auf die Dauer bleibt er meist erfolgreich. Ja, der Widerstand, den die Natur ihm entgegengesetzt, lässt ihn wachsen, schärft seinen Verstand, vervielfacht seine Fähigkeiten ungeahnt. Der Mensch, den du kennst, ist durch die Widerstände erst geworden."

"Du meinst, die Widerstände der Natur seien gewissermaßen die Werkzeuge Gottes, durch die er den Menschen bildet?"

"Ja das meine ich! Aber der Mensch entwickelt nicht nur Technik und Intellekt. In der Not der Jahrtausende erfährt er auch den, der unerkannt über Mensch und Natur lebt. Der Glaube an ihn bringt vielfältigste Blüten und Früchte zutage. In der Buntheit dieser Glaubensfeste tritt langsam, ganz langsam, Gott in das Bewusstsein der Menschen. Wollen wir ihm vorwerfen, dass er uns hat wachsen lassen, dass er uns nicht fertig in die Welt gesetzt hat, dass er uns eine Geschichte geschenkt hat?"

Ich konnte so schnell nicht mit und ließ den Kopf etwas hängen. Sie gab mir Zeit. Schließlich holte ich tief Luft und kam zu dem Schluss:

"Ich glaube, ich bin ganz froh, dass Gott alles so hat entstehen lassen. Trotz Kampf und Not und Tod. Hätte er nur den vollkommenen Menschen geschaffen, so wäre ich das bestimmt nicht, wäre also nie zum Leben gekommen."

Johanna lächelte:

"Auch ich wäre dann nicht. Gott hat aber eine unvorstellbare Freude am Leben, am Werden. So wie wir Freude an den Knospen haben, wenn der Frühling kommt. Alle, die bei Gott sind, haben mit ihm Freude am Werden. Beim Menschen steckt ja auch noch das Abenteuer der Freiheit darin!"

"Freiheit? Wie meinst du das?"

"Ja, Freiheit! Der Mensch ist, wenn auch nicht immer, so doch in einem solchen Maße Herr über seine Entscheidungen, dass niemand den Verlauf seiner Geschichte voraussehen kann. Außer dem Vater natürlich, aber der respektiert die menschlichen Entscheidungen. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob er das hektische und gierige Treiben der Menschen mit großzügigem Humor betrachtet. Er weiß ja, dass das meiste 'Windhauch' ist."

"Ja, Windhauch, schön und gut! Aber ich möchte doch gerne wissen, wie der Herrgott mit denen fertig wird, die in ihrem hiesigen Leben an ihrem Nächsten nicht nur achtlos vorüber gegangen sind, sondern die von ihnen Abhängigen sogar schamlos und grausam ausgebeutet, oder die ganze Völker mit dem Tode bedroht oder tatsächlich ausgelöscht haben. Da kann doch das 'Mäntelchen' der Liebe nicht einfach alles zudecken. Das würde mir nicht in den Kopf gehen."

Johanna schien nicht gesonnen, den bisherigen Plauderton aufzugeben:

"Ich habe ja selbst den Stein ins Wasser geworfen, als ich auf die Freiheit der Menschen hinwies. Aber es ist doch so. Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit stehen sich gegenüber. Ihre Erfüllung bleibt göttliches Geheimnis. Aber nun kommt die menschliche Freiheit dazu. Kein Mensch kann ohne seine freie Zustimmung in das göttliche Leben hinein genommen werden."

"Und was passiert, wenn der Mensch nicht will?"

"Das weiß ich auch nicht. Aber ich bin sicher, dass der Vater niemanden durch seine Macht überwältigt. Er wird um ihn werben, dem Sünder nachgehen, ihm entgegenkommen. Aber er wird seine Freiheit achten, wenn er ihm fernbleiben will."

"Ein für alle Mal?

"Ich weiß nicht, ob menschliche Starrköpfigkeit und Gottesfeindschaft ewig dauern kann!"

Wieder gab es eine Pause. In der fiel mir ein, dass wir vorhin die menschlichen Ursachen, die Unterdrückung und Ausbeutung von Hunderten von Millionen Menschen, als Widerspruch gegen göttliche Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zunächst beiseitegeschoben hatten.

"Darf ich noch einmal auf das Elend zurückkommen, in dem so viele Unschuldige leben müssen, weil sie von Mitmenschen in übelster Weise ausgebeutet und gequält werden."

Ich weiß nicht wie, aber sie hatte auf einmal eine ziemlich große schwarze Platte in der Hand. Diese hielt sie zwischen mich und das Fenster, das in den sonnendurchleuchteten Garten hinaus sah. Das Fenster wurde dadurch ganz verdeckt.

"Schau mal diese Platte. Sie verdeckt dein Fenster ganz und gar.
Nichts mehr siehst du von der Winterlandschaft draußen. Nur, wenn du genau hinguckst, dann kannst du diese vielen kleinen Lichtpunkte auf der Platte feststellen. Es sind winzige Löcher, durch die das Licht dringt. So, nun hole ich die Platte näher an deine Augen. Nun kannst du durch einige der Löcher hindurch schauen und du siehst kleine Teile des Gartens. Und wenn ich ganz dicht an dein Auge komme, dann hast du die ganze Aussicht aus dem Fenster und von der Platte siehst du nichts mehr."

"Ja, und?"

"Ich möchte das für ein Gleichnis unserer Sichtweise nehmen: Wir entdecken in dem Morast der Abwässer, Krankheiten, Gemeinheiten, Gier und Lethargie der Elends-, wie auch der Villenviertel immer wieder die winzigen Lichtpunkte von Mitleid und Hilfsbereitschaft und Aufopferung. Wir wissen auch, dass diese Lichtpunkte meist nicht an einer Stelle verweilen, sondern mal hier, mal da erscheinen. Aber jedes Lichtpünktchen überstrahlt bei genauem Hinsehen die Gemeinheit und die Fäulnis der Umgebung. Und das in einer Weise, dass sie alle zusammen, trotz der Armseligkeit der einzelnen, das Heil Gottes verkünden.
Vielleicht nähern wir uns dem Geheimnis der Allmacht Gottes, die Unberührtheit seiner Schöpfung wieder herzustellen, selbst wenn sie vom Bösen schon überwältigt zu sein scheint.
Er hat Aussätzige wieder rein gemacht und Tote ins Leben zurückgeholt, wenn nur ein Funke von Glauben, vielleicht in Form von Sehnsucht, erkennbar war."

"Siehe ich mache alles neu! steht irgendwo geschrieben."

"Das genau meine ich, und ich glaube, wir rühren hier wieder an einem Geheimnis, das wir mit unserem Verstand nicht ergründen können. Du und ich haben die bitterste Armut und Hilflosigkeit nicht kennen gelernt. Darum können wir auch kaum die Vorliebe Gottes für die Armen ganz von innen her verstehen, zumal wir uns auch von ihm geliebt wissen. Und das ist uns ebenso unbegreiflich, wenn wir ehrlich sind."

Sie schwieg und ließ mich zurück mit einem Kopf voller Gedanken,in die ich nur schwer Ordnung bringen konnte.

Es dauerte mehr als drei Jahre bis ich Johanna wieder traf. Ich hatte zufällig ein Büchlein in die Hand bekommen, in dem Bilder von Hieronymus Bosch gezeigt und besprochen wurden. Sie erinnerten mich an den Roman "Stadt der Freude", dessen Handlung zu einem großen Teil in einem Slum von Kalkutta spielt. Er schildert nicht nur die fürchterlichen Verhältnisse, unter denen die dort lebenden Menschen leiden müssen, sondern er stellt auch die vielfältigen Abhängigkeiten und Unterdrückungen dar, die verhindern, dass sich die Menschen trotz aller Anstrengungen aus ihrer Lage befreien können. Hieronymus Bosch scheint das Gleiche in seinen Bildern darzustellen, wie der Roman es in seiner Sprache tut: die Gier und die egoistische Rücksichtslosigkeit der Menschen.

Es ekelt mich, wenn ich an den Slum in Kalkutta denke, ich bin entsetzt über die Bilder Boschs. Wie kann Gott mit diesem stinkenden Misthaufen seiner Menschen fertig werden. Gut, es gibt auch unter den übelsten Verhältnissen immer auch einen Lichtpunkt und ich gebe zu, dass ich mir wohl zu wenig Mühe gebe, die auch zu sehen, aber bei größter Strahlkraft dieser Lichter, die Finsternis frisst sie doch immer schnell wieder auf.

Johanna hörte sich die Schilderungen meiner Gedanken und Gefühle aufmerksam an. Als ich schließlich verstummte, blieb sie noch eine Weile still, bevor sie begann:

"Als wir das letzte Mal miteinander sprachen, hast du selbst zitiert: 'Siehe ich mache alles neu!' traust du das Gott nun nicht mehr zu?

Da hatte sie mich: wenn ich das jetzt zugeben wollte, könnte ich gleich verzweifeln. Muss Gott nicht auch mich von Grund auf erneuern, ehe ich an seiner Welt teilnehmen kann? Und wenn mich, warum dann nicht auch die anderen?

Johanna wartete geduldig bis ich endlich sprach:

"Ja, das habe ich gesagt, und ich fand die Worte damals fast selbstverständlich. Wie sollte Gott anders handeln. Aber er ist doch Herr seiner Entschlüsse. Dazu fällt mir ein anderes Zitat ein: 'Viele sind gerufen, aber wenige sind auserwählt'. Wie passen die beiden Zitate zusammen?"

"Du hast also das Gleichnis vom Königlichen Hochzeitsmahl im Matthäusevangelium gelesen. Jesus hat ja gerne drastische Gleichnisse aus der Umwelt gebraucht. Hier lässt er einen Orientalischen Potentaten auftreten, um darzustellen, wie lebenswichtig die Umkehr zum Gottesreich für die Menschen ist. Ohne die Umkehr keine Teilnahme an diesem Reich. Die ursprünglich eingeladenen Gäste hatten alle etwas anderes im Kopf und konnten deshalb nicht mitmachen. Der eine ohne hochzeitliches Gewand hielt es auch nicht für nötig, sich für die Teilnahme bereit zu machen. alle diese waren eingeladen, aber sie selbst haben die Einladung durch ihr Verhalten abgelehnt.
Das ist bestimmt eine ernste Sache. Aber die beiden Zitate widersprechen sich nicht. Nur wenige entkommen dem Gericht Gottes. Bedenke aber, dass dieses Gericht gerecht macht, das bedeutet, wiederherstellt, was falsch und unrichtig ist. Es werden nur wenige sein, die diesem Gericht entgehen, weil Gott ihnen die Wiederherstellung schon zu ihren Lebzeiten in der Welt geschenkt hat, so dass sie ihre Armut, ihre Leiden und selbst ihren Tod annehmen konnten."

Johanna ließ mich mit dieser Antwort ohne Abschied allein. Ob sie noch einmal wiederkommt, weiß ich nicht.




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