Oskar Herwartz: JOHANNA




Inhaltsverzeichnis


Johanna lernte ich kennen bei einer Tagung in St. Augustin bei Bonn. Nun ja, genau genommen erfuhr ich, dass es sie gab. Viel mehr auch nicht.

Aber in den vergangenen Jahren traf ich immer öfter mit ihr zusammen, ohne dass ich viel dazu beigetragen hätte. Das soll aber nicht sagen, sie hätte sich mir aufgedrängt. Nein, ganz bestimmt nicht!

Jedenfalls erzählte sie mir im Laufe der Zeit eine Menge aus ihrem Leben mit Jesus. Vieles davon kam mir wie ein Widerhall eigener Erfahrungen vor. Manches andere aber war mir bis dahin völlig unbekannt.

Nach und nach wurden wir richtige Freunde. So konnte ich sie eines Tages bitten, mir ihre Erlebnisse im Zusammenhang zu erzählen, damit ich sie aufschreiben könne. Sie zögerte erst, war dann aber bereit dazu. Anfangs ging das nicht recht. Sie referierte gleichsam. Doch nach und nach bekam ihre Erzählung Wärme und Farbe. Nur als sie auf die Zeit nach dem Tode Jesu zu sprechen kommen musste, versagte ihr die Sprache. offenbar passte keines ihrer Worte zu dem, was sie hatte sagen wollen.

Sie gab mir statt dessen einen Brief, der nun leider kein Augenzeugenbericht ist, aber immerhin scheint er von einem Mann geschrieben, der den Versuch macht, die Ereignisse als Teile göttlicher Menschenführung zu deuten und begreiflich zu machen. Ich bedanke mich daher recht herzlich bei Johanna für die Vervollständigung der Schilderung ihrer Erlebnisse und überhaupt für ihre dauernde Zuneigung. Ich würde mich freuen, wenn sie mit dieser Aufzeichnung einver standen wäre. Ob diese dem Leser ebenso viel Freude macht wie mir das Schreiben, kann nur die Erfahrung lehren.

Übrigens: Ich konnte nur aufschreiben, was Johanna mir erzählt hat.

Vielleicht fragen Sie sie doch einmal, wenn Sie noch etwas erfahren möchten.

Nein, Telefon hat sie nicht. Es braucht auch etwas Zeit, bis sie sich äußert. So einfach ein Interview am Telefon gibt es bei ihr nicht.

Wie sie erreichbar ist? Oh, sie ist leicht zu finden: Lukas 8, Vers 3.

Nun soll Johanna selbst zu Wort kommen.

1

Jesus hatte sich nach seiner Taufe durch Johannes, wie du sicher weißt, in die Wüste am Toten Meer zurückgezogen. Dort erreichte ihn die Nachricht, dass unser König Herodes Antipas den Johannes hatte einsperren lassen, weil der ihn öffentlich kritisiert hatte. Zweifellos hat Jesus das als Signal für sich angesehen, nun selbst an die Öffentlichkeit zu treten und zu predigen.

Predigen? Worüber? Über die Sehnsucht, die im Volke immer stärker wurde: Das Reich Gottes, was immer darunter auch verstanden wurde.

In der Wüste hatte er Zeit und Ruhe genug, um sich ein Bild von diesem Reich Gottes zu machen. Vielleicht ging er in Gedanken die Angebote durch, die von Qumram und von den theopolitischen Parteien gemacht wurden. Auch die Anschauungen der Pharisäer spielten sicher eine Rolle und nicht zuletzt die amtliche Meinung der Tempelpriester. Immer klarer wurde ihm, dass alle diese Vorstellungen nicht übereinstimmten mit dem Handeln Gottes in der Geschichte seines Volkes. Sie vertrugen sich nicht mit seiner Erfahrung von dem liebenden Gott, der sich behutsam, leise und sanft in den Menschen offenbaren will und ihnen dabei die vollkommene Freiheit lässt.

Ich stelle mir diese Wüstenzeit Jesu immer wie eine Aussprache mit seinem Gott vor, wie eine Meditation. Dabei erhielt er die Gewissheit, dass das Reich Gottes, das von allen so heiß herbei gesehnt, gebetet und gezwungen wurde, unter den Menschen schon gegenwärtig ist.

Predigen über das Reich Gottes, das schon da ist?

Dass er mit dieser Predigt in Galiläa anfing, scheint mir Programm. Schon nach wenigen Wochen sandte Johannes Boten zu ihm, um herauszufinden, wer denn dieser neue Prediger sei, der den von ihm fallengelassenen Faden aufgegriffen hatte. "Blinde sehen, Lahme gehen, den Armen wird eine frohe Botschaft verkündet!" hat Jesus ihnen geantwortet.

Den Armen? Jesus wendet sich an die, die ungebildet sind, die kaum lesen und schreiben können, denen die Schriftgelehrten nichts zutrauen, die daher hilflos der Willkür der Mächtigen ausgesetzt sind. Bei ihnen suchte er sich Freunde. Er findet sie an ihren Arbeitsstellen, in den Städten oder am Seeufer. Überall, wo Männer zusammen sind, wird vom Reich Gottes geredet:

"Lass nur erst die Römerweggejagt sein! Lass nur erst Herodes totgeschlagen sein, und seine ganze Sippschaft. Ein Kerl wie David müsste her, der würde sie zu Paaren treiben. Die Zöllner würde er ausrotten, die Gutsbesitzer, die Soldaten, die Huren, die ... Wenn das geschafft ist, dann ist das Reich Gottes da, dann bricht es an. Ja, einen David brauchen wir!"

Jesus steht mitten unter ihnen. Hört ihnen zu, erkennt ihre Träume und Sehnsüchte. Sicher hat er auf seiner Wanderung hin und her überlegt, wie er am besten sprechen könne.

Für mich als Frau eines Hofbeamten des Herodes, war es gar nicht so leicht, ihn aus nächster Nähe zu erleben. Ich gehöre ja auch zu denen, die man am liebsten weggejagt hätte.

Das erste Mal kam das rein zufällig. Ich ließ mich zu einer Freundin tragen. Die Träger hatten große Mühe, sich durch die Leute zu drängen, die sich wieder einmal vor einem Wirtshaus zusammengerottet hatten. Grund dazu gab es bald. Vielleicht war ein Soldat gewalttätig geworden oder ein Steuereinnehmer hatte Krach mit einem Steuerpflichtigen bekommen. Sofort wurden wieder die entsprechenden Parolen laut. Und immer wieder der Ruf nach David.

Da sah ich Jesus zum ersten Male. Er drängte sich zwischen die Männer und rief mitten in den Knäuel: "Freut euch! Ich habe gute Nachricht! Das Reich Gottes ist schon da! Ihr müsst nur die Augen aufmachen und anders denken lernen! Dann werdet ihres erkennen!"

Die Männer waren so verblüfft, dass alle ein, zwei Schritte zurücktraten. Das gab uns damals die Möglichkeit, durch den nun lockeren Haufen hindurchzukommen. Meine Freundin, der ich den Vorfall erzählte, lachte: " Dieser Jesus ist auch einer von den Verrückten, die immer nur Umkehr und Buße predigen. Wie anders kann dieses 'anders denken lernen' sonst verstanden werden."

Da mochte sie Recht haben. Dieses 'Tut Buße' hatte ich auch schon oft gehört. Johannes hatte ja ebenso gesprochen. Aber Jesus sprach anders. Und er konnte sich auch Gehör verschaffen. Er hatte sofort Respekt, und das erfuhr ich später immer wieder. Er machte nicht den Versuch, in einer Sache, die ihm vorgelegt wurde, Partei zu ergreifen, wie das andere Rabbis taten. Ihm ging es nur um das Reich Gottes, das schon da ist, und nicht erst in imaginärer Zukunft kommen soll.

Später, als ich oft mit ihm zusammen war, habe ich einiges aus der Anfangszeit erfahren. Die Menschen waren bald fasziniert von ihm. So konnte er sich fast im Vorübergehen Leute anwerben, von denen viele ihn lange Zeit begleiteten, einige sogar fest bei ihm blieben.

Ich bin nicht von ihm angeworben worden. Zu mir hat er nicht einfach gesagt: "Komm mit! ", wie zu Petrus und den Söhnen des Zebedäus. Mir imponierte seine Macht, die er über die Menschen hat, die er aber zugleich nie für sich ausnützte.

Unter seinem Einfluss wurden Kranke gesund. Hinterher sagte er oft: "Dein Glaube hat dir geholfen." Er gab den Leuten den festen Glauben, dass sie gesund würden. Er riss sie gleichsam mit sich in den Glauben an ihre Gesundheit. Sie wurden gesund.

Seltsamerweise haben die Leute daraus nicht den Schluss gezogen, Jesus könnte vielleicht der erwartete Messias sein. Tatsächlich entsprach er auch nicht den Vorstellungen von einem 'David'. Ein gewaltsames Vorgehen gegen die Feinde oder Unterdrücker des Volkes konnte sich bei ihm auch wirklich keiner vorstellen. Wenn Meinungen geäußert wurden, dann wurden Namen wie Elija oder Jesaja genannt. Vielleicht schimmerte dabei auch die ständige Furcht der einfachen Leute durch, die mit Königen ja oft schlechte Erfahrungen gemacht habe. Mir selbst kamen nie Gedanken an wiedererstandene historische Gestalten. Für mich war Jesus eben Jesus.

2

Nein, ich bin nicht angeworben worden, 'berufen', wie man das auch nennt. Das spöttische Lachen meiner Freundin konnte ich aber nicht mitmachen. Ich hörte nur immer noch seinen Ruf "Freut Euch! Das Gottesreich ist hier und heute schon da. Ihr müsst nur richtig sehen lernen, dann findet ihr es auch!"

Ich habe Zeit genug zum Nachdenken. Meine Kinder sind schon selbständig, mein Mann hat eine angesehene Stellung am Hofe des Herodes Antipas. Ich lebe in einer guten Ehe mit ihm. Er ist immer sehr lieb zu mir, wenn er da ist. Nur macht er oft Reisen für seinen König. Dann lebe ich mit der Dienerschaft allein in unserem großen Haus.

Früher glaubte ich, Herodes würde durch seine ausgezeichneten Beziehungen in Rom für unser Land wenigstens Frieden und eine gewisse Freiheit herbeiführen können. Aber stattdessen wurden die Reichen immer reicher, deren Ungerechtigkeiten immer schlimmer, entsprechend die Unruhen immer bedrohlicher. Ich empfand das besonders bedrückend, weil ich zu denen gehörte, die von den Zeloten, diesen militanten Eiferern, besonders gehasst wurden. Ich bin ja eine von den Reichen, den 'Römerfreunden'.

Zuletzt ließen meine Gedanken mir keine Ruhe mehr. Ich wollte wissen, was das 'Gottesreich hier und heute' bedeutet. Ich ließ mich also zu Jesus tragen. Meine Träger kamen auch ganz dicht an ihn heran. Seine Umgebung machte höflich Platz, und ich hätte Jesus heran-winken können. Aber ich tat es nicht. Ich schaute ihn nur an. Mein Herz klopfte bis zum Halse. Er war kein so strubbeliger Mann, wie ich mir vorgestellt hatte, weil Johannes so einer gewesen sein sollte. Ertrug die Haare, wie bei jüngeren Männern üblich, im Nacken zusammengebunden. Auch in seiner Kleidung war er unauffällig und schlicht.

Auch er schaute mich an, ganz ruhig, und lächelte. Ich konnte gar nicht anders, ich musste zu ihm hingehen. Er kam mir entgegen, breitete seine Arme aus und nahm mich an seine Brust, wie ein Vater seine Tochter an sich zieht. Dabei bin ich doch erheblich älter als er. Ich wusste sofort, ich gehörte zu ihm. Die Sänfte schickte ich weg mit dem Auftrag, mich abends wieder abzuholen.

Jesus mit seinem großen Gefolge, und auch mit mir, suchte Platz im Schatten eines großen Baumes. Dort ließen sich alle nieder, um auszuruhen. Jesus selbst ging etwas von den anderen weg. Jemand flüsterte: "Er geht beten." Vielleicht war das auch so, aber ebenso gut hat er nur etwas Ruhe gesucht. Doch das könnte bei ihm auch das Gleiche sein.

Die anderen reichten sich gegenseitig mitgebrachtes Essen zu. Sie teilten das, was sie hatten, miteinander. Auch mir wurde angeboten, aber ich hatte zuhause schon gegessen und wollte niemandem etwas wegnehmen. Es war nicht allzu üppig, was sie hatten.

Nach einer Weile kam Jesus wieder, setzte sich zu uns und bekam auch etwas von dem, was da war. Ich hatte Sorge, es könne ihm nicht recht sein, dass ich zwischen seinen Leuten saß. Ich war einfach dageblieben. Ich fühlte mich frei und brachte es sogar fertig, ihn zu fragen.

"Meister" - so redeten sie ihn alle an - "Meister ich habe gehört, wie du erklärt hast, das Gottesreich sei schon da! Aber die Römer sind doch immer noch im Lande, die Ungerechtigkeit herrscht schlimmer als früher, die Abgaben lasten drückend auf den Leuten. Und du redest, das Gottesreich sei schon da."

Er sah mich an. Ganz ruhig und keineswegs indigniert, weil ich doch eine Frau bin. Obendrein die Frau eines Hofbeamten. Das konnte er aus der Sänfte, in der ich gekommen war, und auch aus meinem Gewand schließen. Ich spürte aber keinerlei Ablehnung, als er sagte:

"Johanna, du siehst das schon ganz richtig, besser als die meisten deines Standes. Du gehörst zu den Reichen, aber du ahnst, dass dieser Reichtum auf die Armut anderer gegründet ist, obwohl du selbst niemandem unmittelbar Unrecht getan hast."

"Nein, das habe ich auch nicht, glaube ich, doch scheint mir irgendetwas nicht zu stimmen. Woran kann ich denn das Gottesreich erkennen? Wird der König auf seinen Thron verzichten? Wird Pilatus von Rom zurückgezogen?"

"Das wohl nicht," meinte er. "Das Reich Gottes ist allerdings nicht leicht zu erkennen. Du musst Augen dafür bekommen und darfst nicht so politisch denken. Es ist noch winzig klein. Wie ein Samenkorn. Aber stecke so ein winziges Körnchen mal in die Erde. Dann wächst es und wird groß. Ein Baum wird daraus. Vögel können Schutz darin finden."

"Ja, aber wo finde ich das Samenkörnchen? Mach meine Augen offen dafür! Zeige mir das Gottesreich oder das Samenkörnchen!'.

"Schau mal! Der Mensch ist doch gegenüber Jahwe nur ein Wurm, eine winzige Kreatur. Aber er bläst sich auf wie ein Ochsenfrosch. Sieh dir doch nur mal die Höflinge des Herodes an, wie sie rumlaufen, oder die Zöllner, oder die Tempelpriester oder überhaupt alle, die nur ein bisschen mehr haben als ihre Nachbarn. Ein bisschen mehr Geld oder Macht oder auch nur Einbildung. Vor Gott aber sind alle Menschen gleich gering. Nur merken das die Armen, die kein Geld, keine Macht haben, viel besser. Sie sind schon ganz dicht am Gottesreich. Und dazu alle, die gemerkt haben, dass die Mittel dieser Welt kein Glück, keine Liebe, keine Hoffnung geben können. Hast du nicht auch gebetet, als du Angst um dein Kind hattest? Wer betet, bekennt seine Armut und Hilflosigkeit vor Gott. Der gehört dazu zum Gottesreich. Oder die, die nicht allein ihren Vorteil suchen, sondern zu teilen verstehen. Das ist manchmal ziemlich schwer für arm und reich. Aber wer teilen kann, der ist im Gottesreich. Damit fängt es an. In ihm ist der Größte, der der Diener aller ist."

Er sprach gar nichtfeierlich oder sonst wie geziert. Was mich mitriss, war sein inneres Feuer, sein Geist. Niemals, solange ich lebe, werde ich den vergessen.

Ich sprach mit meinem Mann darüber. Der hatte natürlich nicht dieses unmittelbare Erlebnis, aber mein Bericht hat ihn doch nachdenklich gemacht. Er möchte so gerne ein guter Jude sein, aber wir haben damit unsere Schwierigkeiten in der Hofgeselischaft, die doch sehr gemischt ist. Viele, die sich als Juden bezeichnen, halten die Vorschriften nur sehr lau ein. Wenn ich mich selbst ansehe, so kann ich mich hinsichtlich meiner Thoratreue überhaupt nicht mit einer Pharisäerfrau vergleichen, die darin viel genauer ist. Aber um wirklich genau zu sein, muss man einen Aufwand treiben, den noch lange nicht Jeder Jude treiben kann. Darum werden die einfachen Leute, besonders die Galiläer, auch so verachtet. Darum, glaube ich, hat Jesus sich zuerst an sie gewandt. Sie begannen die Befreiung, die er ihnen brachte, zu begreifen. Nicht die genaue Erfüllung aller religiösen Vorschriften zwingt den Messias herbei, sondern die Erlösung ist schon da. Der Weg zum Reiche Gottes geht nicht über das Gesetz, sondern mit Jesus.

Bei solchen Überlegungen, die mein Mann und ich hin und her anstellten, merkte ich, wie sich auch in ihm eine Befreiung auftat, die wir bisher gar nicht kannten. Voller Freude rief er: "Du, wir sind ja genauso arme Hunde, wie die Galiläer! Das, was wir wirklich ersehnen, die Freundschaft mit Gott, so will ich mal das Reich Gottes nennen, können wir nicht um alles in der Welt kaufen. Nicht einmal das Glück unserer Kinder, den Frieden, oder was immer für uns von Bedeutung sein könnte."

Schließlich meinte er: "Du musst wieder zu ihm gehen. Musst mir von ihm berichten. Ich kann ja nicht vom Hofe weg. Aber du kannst. Wenn du willst, kannst du ihn auch unterstützen von dem, was wir haben. Vielleicht ist das unser Weg. Vielleicht kann ich ihm einmal nützen, wenn er, was leicht geschehen kann, mit den Behörden aneinander gerät. Wer weiß?"

Ich war glücklich, hatte ich. ihn doch gerade darum bitten wollen. Ich musste wieder zu Jesus, musste unbedingt mehr von ihm erfahren. Mein Leben änderte sich vollständig. Zwar kam ich meinen Pflichten als Frau eines Hofbeamten gewissenhaft nach, aber die ließen mir, wie bisher, viel freie Zeit, die ich jetzt zum größten Teil bei Jesus verbrachte. Oft mehrere Tage hintereinander, bis ich mich wieder abholen ließ.

Jesus war ein fröhlicher Mensch, kein Asket, dem man die Frömmigkeit schon von weitem ansah, an den Trotteln seiner Kleider oder seinem 'schiefen Kopp', wie mein Mann dazu immer sagt. Es macht Freude, ihm etwas mitzubringen. Es wurde immer sofort verteilt. Oft wurde aus solchem Anlass ein kleines Festmahl veranstaltet. Dazu wurden dann auch viele, die irgendwo herkamen, eingeladen.

Bei solcher Gelegenheit sagte Jesus einmal zu mir: "Siehst du, so ein Gastmahl wie dieses ist auch Reich Gottes. Jeder ist voller Freude. Es gibt keinen Streit, weil Jeder den anderen achtet. Niemand fürchtet den anderen, oder beneidet ihn, oder hasst ihn. Niemand braucht eine Waffe, lies mal beim Propheten Jesaja nach. Selbst der schlimmste Räuber, der diese Ordnung respektiert, ist im Reiche Gottes. Kannst du auch bei Propheten nachlesen."

"Aber nicht jeder Teilnehmer unseres Gastmahles ist im Reiche Gottes!" Das konnte ich denn doch nicht unterdrücken.

"Nein, da hast du Recht! Nicht einmal jeder Gutwillige. Das ist nämlich zugleich sehr widerstandsfähig und sehr empfindlich. Wenn jemand sich eindrängt, der sich dem Geist der Gemeinschaft nicht unterwirft, der vielleicht sogar die Gruppe beherrschen will, der gehört nicht hierher, der bleibt draußen."

"Ist er dann für immer verloren?"

"Nein, so meine ich das nicht! Aber stell' dir vor, dein Mann käme jetzt hierher, angetan mit seinen Hofgewändern. Die würden es ihm doch unmöglich machen, sich hier zu integrieren. Ähnlich ginge es einem Pharisäer In seinem Ornat. Aber der könnte an einem Gastmahl in seinem Kreis ohne weiteres glücklich sein. Das Reich Gottes hat viele Gesichter. Die Menschen müssen nur auf dem Wege zu Gott sein. Das aber tun sie, wenn in ihnen der Geist des Dienens herrscht."

Nun hatte ich wieder genug Stoff zum Nachdenken.

3

Ich besprach alles mit meinem Mann. Der meinte schließlich: "Na, vom Dienen ist am Hofe des Herodes oft genug die Rede. Aber ich schätze, Jesus braucht das Wort in einem ganz anderen Sinne. Die Hofbeamten halten sich bestenfalls für Diener des Staates, der Monarchie oder des Königs. Das hat Jesus sicherlich nicht gemeint. Aber Johanna, ist dir schon aufgefallen, dass Jesus nie vom Tempel oder von der Synagoge spricht."

"Er geht doch jeden Sabbat in die Synagoge!"

"Ja, wenn er nicht gerade Ähren rauft mit seinen Jüngern! Das hat einen schönen Aufstand gegeben bei denen, die alles ganz richtig machen können, weil für sie das Sabbatmahl schon am Freitag fertig gemacht wird."

Offen gestanden war mir das tatsächlich noch nichtaufgefallen. Nun entdeckte ich plötzlich, dass Jesus zwar zu den Festen nach Jerusalem pilgerte, das aber von einem Opfer nie die Rede war. Offenbar hatte er gar keine Ader für fest eingefahrene Bräuche. Zwar beeindruckte auch ihn der prächtige Tempel, aber zugleich war ihm klar, dass dieses alles Werk von Menschen ist und darum keinen Bestand haben kann.

Ich merkte, dass sich mein Mann eingehender mit dem Problem beschäftigt hatte, denn er machte mich auf die Propheten aufmerksam, die ja meist auf der Linie des alten Samuel lagen und sich das 'Volk Gottes' auch ohne staatliche Macht, ohne König, ohne Tempel vorstellten. "Das ist eine tollkühne Idee, danach werde ich Jesus fragen!" versprach ich.

Ich tat es bei nächster Gelegenheit. Er lachte und sagte: "Du bist eine richtige Beamtenfrau. Du willst das, was du 'klare Verhältnisse' nennst. Eine Institution, einen Staat. Aber ich glaube, Gott will Vater einer großen Familie sein, eines lebendigen Organismus also. Natürlich muss eine solche Familie eine gewisse Form haben. Aber die ist zweitrangig. Zuerst muss das Reich Gottes gesucht und gefunden werden, alles andere kommt von allein." Ich staunte erst mal.

Weil mein Mann wieder auf Reisen war, hatte ich Zeit, allein über diese Worte nachzudenken. Je länger ich das tat, umso mehr schien mir der Boden, auf dem wir standen, zu wanken. Ich hatte bisher geglaubt, meine Pflicht wäre es, Not zu lindern, wo ich sie sah. Nun aber musste ich einsehen, dass die Welt, in der wir leben, dieses ganze Oben und Unten, nicht gottgewollt war, wie ich immer geglaubt hatte. Gott gewollt kann nur eine Gesellschaft von Gleichen, ja eigentlich von Brüdern und Schwestern sein. Die Strukturen dürfen nur den Sinn haben, dieser Gesellschaft zu dienen. Ich wagte es nicht, mit irgendjemand über meine Entdeckung zu sprechen. Ich sah das ironische Lächeln, hörte die Empörung der anderen Beamtenfrauen. Mit Ungeduld wartete ich auf die Rückkehr meines Mannes. Ob er das auch so sehen konnte wie ich? Allerdings, ich zweifelte nicht daran, Jesus Worte richtig verstanden zu haben. Und ich glaubte ihm. Nur hatte ich Angst vor den Konsequenzen. Denn es war mir klar, dass die Herrschenden mit Jesus kurzen Prozess machen würden, wenn solche Ideen öffentlich verkündet würden.

Mein Mann sah die Sache ebenso pessimistisch wie ich. Nachdem wir gemeinsam in Gedanken die heiligen Schriften immer wieder durchgegangen waren, soweit wir das auf der Basis unseres Schulwissens überhaupt konnten, kamen wir schließlich auf den Gedanken, die Geschichte unseres Volkes sei doch wohl nicht nur politisch zu sehen. Nicht nur bei der Befreiung aus Ägypten oder im Zusammenhang mit dem babylonischen Exil hatte Jahwe in die Geschichte eingegriffen. Es schien uns nun vielmehr, unser Volk habe sich immer unter der fürsorglichen Führung Gottes befunden, auch dann, als es gar keinen Staat bildete, und auch bei denen, die heutzutage außerhalb unseres Staates leben. Ob man zwischen der politischen Geschichte der Israeliten und der Geschichte des 'Volkes Gottes' unterscheiden musste?

Ich fragte Jesus danach. Er antwortete mir, bat mich aber, seine Worte vorläufig für mich zu behalten:

"Du wirst es schon wissen, wann du eines Tages davon erzählen kannst. Sieh mal, ich habe euch doch beten gelehrt 'Vater unser im Himmel'. Jahwe ist unser Vater, Vater des Volkes, nicht König an der Spitze des Staates. Er wohnt unter uns. Nicht nur im Tempel zu Jerusalem. Er liebt sein Volk, seine Familie. Er unterdrückt es nicht durch strenge Gesetze. Wohl gibt es Gesetze und Vorschriften. Manche davon sind sehr wichtig. Sie müssen eingehalten werden, damit das Volk, damit die Menschen leben können. Aber grundsätzlich lässt Jahwe den Menschen die Freiheit. Er will von uns in aller Freiheit geliebt werden. Darum lässt er uns auch die Freiheit, uns falsch zu verhalten, uns sogar gegen ihn zu entscheiden. Er bleibt uns sogar auf unseren falschen Wegen nahe.

Dein Mann hat dich an den alten Samuel erinnert. Der wollte ja damals, nach dem Willen Jahwes, das Volk davon abbringen, einen König zu wählen. Aber alle Argumente und Hinweise auf zukünftige Fehlentwicklungen halfen nichts. Das Volk blieb bei seinen Wünschen. Jahwe hätte nun natürlich abblocken können. Aber das tut er nicht. Er begleitet sein Volk auch auf dem falschen Weg bis zum bitteren Ende. Doch dann errettet er es trotz Exil. Ja, er hat auch den Bau des salomonischen Tempels hingenommen als geistigen Mittelpunkt für das ganze Volk. Aber er hat dann dem Volk dieses Symbol für sich selbst genommen, als es am Ende der Königszeit zum Fetisch geworden war. Im Exil hat er dann das Volk gelehrt, dass er auch ohne Tempel verehrt werden kann und will. Auch unser heutiger Tempel, den der blutrünstige Herodes gebaut hat, wird wieder verschwinden, so prächtig er jetzt auch da stehen mag. Mit ihm wird auch der Judenstaat verschwinden, und das Volk wird lernen, ohne staatliche Ordnung in einem 'Reich Gottes' zu leben, in dem Platz für alle sein wird. Das Land, das Abraham verheißen wurde, wird für alle Völker Heimat bieten. Das hat auch Jesaja schon verkündet. Ist es angesichts dieser Erfahrungen zuviel gesagt, wenn ich behaupte, Jahwe sei der Diener der Menschen, und fordere dass auch die Menschen Diener ihrer Mitmenschen sein sollten?"

Ich war außer Stande, darauf etwas zu erwidern. Im Geiste berichtete ich meinem Mann. Ich sah dessen bedenkliches Gesicht. Mir waren die politischen Konsequenzen solcher Ideen auch durchaus klar. Jesus stellte die Macht der Herrschenden, der Tempelpriester, des Herodes und erst recht die der Römer, in Frage. Ihre Herrschaft war nicht der Wille Gottes. Auch für Chuza und mich konnte ich unmittelbare Gefahr erkennen. Und zwar gleichgültig, ob das Volk aus Jesu Worten die Aufforderung zum Umsturz ableitete, oder ob die Machthaber kurzen Prozess mit Jesus und seinen Jüngern machten. Doch wollte und konnte ich mich nicht von ihm trennen.

Aber andererseits wollte ich auch wissen, woher Jesus eigentlich die Sicherheit nahm, so zu sprechen. Schließlich war seine Deutung unserer Geschichte und der Schriften so ganz anders, als ich sie gewohnt war. Bei nächster Gelegenheit fragte ich ihn: "Woher weißt du das alles, Meister? Bist du ein von Jahwe berufener Prophet? Wie und wo hat dir Jahwe dieses Wissen vermittelt?"

Offenbar konnte er keine schnelle Antwort finden. Dann aber erzählte er uns seine Geschichte, die deutlich macht, wie in ihm die Erkenntnis des Willens Jahwes mit ihm und seinem Volke gewachsen war. Ich sagte 'uns', weil sich bei längeren Gesprächen immer auch weitere Zuhörer um ihn versammelten, auch kamen und gingen, je nach ihrem Interesse an dem Thema, das besprochen wurde. Mich erregten seine Worte in meiner Seele.

"Als ich meine Mizwa gefeiert hatte", begann er, "machte ich mit meinen Eltern eine Wallfahrt nach Jerusalem. Der vorangegangene Unterricht in Nazareth hatte mir mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Mein zentrales Anliegen war: Was will Jahwe mit unserem Volk? Ich sah ja das Elend in der Regierungszeit des Archelaos, der nach dem Tode des Herodes des Großen die Macht hatte. Ich sah auch, dass viele die Gebote der Thora gar nicht halten konnten. Sollten sie alle verloren sein? Wie war das mit Jahwes Güte und Barmherzigkeit vereinbar? In Jerusalem nahm ich meine neue Würde wahr und drängte mich zu den Schriftgelehrten, die im Tempel um den weisen Hillel versammelt waren. Ich meinte, die müssten es wissen. Hatten sie doch oft ein Leben lang die heiligen Bücher studiert und kannten alle wissenschaftlichen Auslegungen.

Sie waren auch sehr geduldig mit mir und versuchten, mir ihre Antworten begreiflich zu machen. Darum vergaß ich alles um mich herum. Meine Eltern. Die anderen Pilger aus Nazareth. Noch nie hatte ich mich so intensiv mit meiner Frage befassen können. Nach drei Tagen wurde ich durch meine Eltern, die mich die ganze Zeit voller Sorge gesucht hatten, aus dieser Herrlichkeit herausgerissen. Ich hörte ihren Vorwurf, aus dem ihre Ängste klangen, doch ich war in diesen Tagen nicht in dieser Welt gewesen. Darum antwortete ich ihnen, für sie völlig unverständlich: 'Ich war bei meinem Vater!'

Danach vergingen die Jahre. Ich arbeitete in der Werkstatt meines Vaters Josef, bis er starb. Dann übernahm Ich mit seinen Söhnen aus erster Ehe die Sorge für meine Mutter. Im Betrieb lief alles seinen gewohnten Gang.

Wenn nichts zu tun war und am Feierabend saß ich bei meiner Mutter. Sie konnte wunderbar vom Vater erzählen. Zuerst habe ich natürlich gemeint, sie spreche von Josef. Sicher war das auch so, aber nach und nach, ganz unmerklich, erkannte ich, dass sie eigentlich von Jahwe erzählte. Schließlich wurde ich ganz sicher, dass Jahwe unser Vater ist. Der Vater, der uns nie verlässt. Da Mutter aber immer 'Abba / Papa' sagte, ist Jahwe nun mein 'Papa' geblieben.

Nicht nur mein Papa, sondern der Vater ganz Israels. Ich konnte ihn mir doch unmöglich allein für mich vorstellen. Von der Zeit an betete ich jeden Tag zu unserem Vater im Himmel und teilte ihm alles mit, was mich bewegte. Sein Reich sollte kommen! Sein Name sollte Heil bringen und von allen geehrt werden. Ja, sein Wille sollte geschehen, und ich wollte seinen Willen tun. Brot habe Ich mir erbeten für jeden Tag. Das war ja unsere tägliche Sorge in den oft unruhigen Zeiten. Ich bat darum, dass unserem Volk die Sünden vergeben würden, und dass wir nicht in Versuchung kämen, uns unser Recht mit Gewalt zu verschaffen. Um Befreiung bete ich von allen Übeln, deren es damals wie heute viel zu viele gab.

Vielleicht kann man das nicht immer beten nennen, was ich tat. Ich lebte ja in dieser Welt mit meinen Wünschen und Sehnsüchten, aber es war so, als hüllte mich der Geist des Vaters vollständig ein. So ist es auch heute noch."

Hier schwieg Jesus, weil wir zum Essen gerufen wurden. Auf dem Weg dorthin blieb er noch einmal stehen, legte seinen Arm um mich und sagte: "Johanna, Gott hat es so gefügt, dass ich den Vater durch meine Mutter erfahren habe. Sie hat mir ja von ihm erzählt. So ist er mir sowohl Vater wie Mutter. Jahwe ist unserem Volke, ja sogar allen Völkern, Vater und Mutter zugleich. Diese meine Erfahrung entspricht durchaus den Schriften und Erfahrungen unseres Volkes. Gott ist gerecht und barmherzig, streng und gütig."

An diesem Abend fand eines unserer kleinen Feste statt. Gäste waren da, und es gab für uns einiges zu tun. Ich hörte, wie Jesus bis tief in die Nacht mit Menschen sprach. Manchmal hatte ich den Eindruck, Jesus spreche vom 'Gottesreich', das schon da sei, die anderen aber über ein Großisrael, das erkämpft werden müsse. Später einmal hörte ich, wie Jesus nach solchen Gespräch sagte: "Sie haben Ohren und hören nicht, sie haben Augen und sehen nicht."

Ich kenne ja diese Politiker, die sich in der Welt ihrer Feindbilder bewegen, und die daher blind sind für den Willen Gottes, für den zu kämpfen sie vorgeben.

Als ich mich an diesem Abend endlich zurückziehen konnte, sank ich sofort in einem traumlosen Schlaf, ohne noch einmal an Jesu Erzählung über seine Jugend in Nazareth zu denken.

Die holte mich am nächsten Morgen wieder ein, als ich schon vor Sonnenaufgang am Seeufer saß. Ich musste an die endlose Zeit der 18 Jahre denken, in der sich bei Jesus langsam, ganz langsam die Vorstellung von Jahwe als Vater seines Volkes, unseres Volkes, entwickelt hatte. Ich verstand jetzt einige seiner Gleichnisse besser. Z.B. das von der Saat, die ganz allein und ganz langsam wächst, wenn sie einmal gesät ist. Mir leuchtete das alles ein und gefiel mir sehr, aber ich hatte die Antwort auf meine Frage immer noch nicht.

Doch schon bald sah ich Jesus kommen. Frisch, als wäre die Nacht nicht so kurz gewesen. "Hast du schon etwas gegessen?" fragte ich ihn. "Ich habe eine Speise genossen, die du nicht kennst, Johanna!" Da durfte ich annehmen, dass die Gespräche der Nacht doch auch erfreulich gewesen waren.

Er setzte sich neben mich, und wir schauten beide auf die Morgenröte über dem See. Nach und nach kamen andere hinzu. Solche Stunde in der Frische des Morgens Ist noch so offen und empfänglich, noch so unverbraucht.

Ohne dass ich meine Frage von gestern Abend erneuern musste, begann Jesus wieder zu erzählen:

"Eines Tages hörte ich vom Auftreten des Johannes. Natürlich, wie bei vielen Gerüchten in dieser politisch gespannten Zeit, waren auch die über ihn wirr und aufgeladen mit romantischen Vorstellungen aus der Vergangenheit. Ein neuer Elija ist gekommen! Nein, Elija selbst Ist wieder da!

Aber dann kamen Männer nach Nazareth, die von seiner Predigt berichteten: 'Ändert euer Leben! Bereitet den Weg des Herrn! Macht die Wege grade!' Wenn einer damit ernst machen wollte, dann taufte Johannes ihn im Wasser des Jordan.

Die Worte seiner Predigt hatte ich auch schon bei Jesaja gelesen. Sie ließen mich aufhorchen. Und weiter: 'Wer zwei Röcke hat, gebe einen an den, der keinen hat!' Das konnte kein sogenannter Messias sein, der uns von den Römern zu befreien versprach. Den musste ich hören!

Meine Mutter schaute mich lange aufmerksam an. Ihr Herz war schwer, das war mir klar. Aber ich musste jetzt zu Johannes. Vielleichtahnte sie, dass ich nie wieder nach Hause kommen würde. Außer zu Besuch. Sie gab mir ihren Segen, und ich wanderte zum Jordan und an diesem entlang, bis ich Johannes traf. Zu meiner Überraschung und Freude erkannte ich in ihm meinen Vetter, den Sohn des Zacharias. Wir hatten schon früher mehrere Male lange Gespräche über 'Gott und die Welt' geführt und versucht, das Wirken Jahwes in der Geschichte unseres Volkes zu erkennen. Er war irgendwie robuster, rauer als ich. Ich hatte diese Art an ihm immer bewundert und ihn auch schon 'Elija' genannt. Als er mich nun kommen sah und erkannte, rief er seinen Jüngern zu: 'Seht das Lamm Gottes'! So hatte er. mich früher schon oft im Scherz, wie ich meinte, genannt. Jetzt schien er mir aber nicht zu spaßen. Ich war betroffen, ging etwas verwirrt auf ihn zu, begrüßte ihn und bat um die Taufe. Doch er wollte nicht: 'Du von mir? Du müsstest mich taufen!' Ich hatte das Gefühl, als spräche nicht er, sondern mit seiner Stimme ein anderer.

Um die Verlegenheit zu überspringen, ließ ich meine Kleider fallen und stieg ins Wasser. Er kam hinter mir her, legte seine Hände auf meinen Kopf und duckte mich unter.

Nach einer, wie mir schien, langen Zeit ließ er mich wieder frei, und ich konnte atmen. Seine Hände glitten an meine Schläfen. Als ich die Augen wieder offen hatte, sah Ich, dass er mich fest und feierlich betrachtete. Langsam nickte er mit dem Kopf und sagte: 'Ich weiß nun, dass du es bist.' Ich muss ihn wohl ziemlich verständnislos angesehen haben, denn er wiederholte. 'Du bist es' noch mehrere Male.

Als wir wieder an Land waren, fragte er mich nach meinen Plänen. 'Ich habe noch gar keine', antwortete ich, 'Ich wollte dich gerade fragen.' Doch er wollte mir zuerst keinen Rat geben. Schließlich aber sagte er doch: 'Geh' für einige Zeit in die Wüste. Vielleicht nach Qumram, und achte gut auf das Zeichen, das Gott dir geben wird.'

Ich habe getan, was er mir riet. Auch in Qumram bin Ich gewesen. Nein, das Klosterleben dort ist nichts für mich. Ich finde die Frömmigkeit zwar großartig. Nur meinen Vater konnte ich dort nicht wiederfinden. Vielleichtwegen des Kultes, der mit dem 'Lehrer der Gerechtigkeit' getrieben wurde. Ich konnte mich vor allem aber auch nicht befreunden mit den Gedanken einer gewaltsamen Herbeiführung des Gottesreiches, auf die man sich dort vorbereitete.

Ich blieb in der Nähe, lebte aber allein, was nicht bedeutete, dass ich keinen Besuch bekam. Einsiedler sind ja oft eine Attraktion.

Einer meiner Gäste prahlte: 'Wenn ich der Messias wäre, dann würde ich mich von der Zinne des Tempels herabstürzen, denn es steht geschrieben, dass dann Engel kämen, mich aufzufangen. Alle Leute würden mir glauben.' Ich sagte ihm, es stünde aber auch geschrieben, der Mensch dürfe Gott nicht versuchen.

Ein anderer wollte als Messias die Parther zum Zug auf Rom aufwiegeln. Wenn die beiden Großmächte sich dann gegenseitig geschwächt hätten, dann würde Jerusalem die Hauptstadt der Weltwerden und über alle herrschen.

Irgendwie hakten sich derlei Ideen in meiner Seele fest, obwohl ich den Unsinn sofort erkannte. Es bedurfte einiger Anstrengung, zu widerstehen. Aber der Vater, zu dem ich immer wieder betete, befreite mich von dem Spuk. Nicht auf einmal, sondern langsam und schrittweise.

So kam einer, der meinte, wenn der Messias käme, dann müsste er die Wüste fruchtbar machen, damit alle Leute genug zu essen hätten. Ich sagte ihm, der Mensch lebe doch nicht nur von Brot, sondern von dem Worte, das aus dem Munde Gottes kommt. Er war so enttäuscht, dass er mir leid tat. Er war ja auch der einzige, der an die anderen Menschen und an ihren Hunger gedacht hatte. Dann sagte ich ihm: "Sieh', das können doch die Menschen auch selbst, wenn sie nur die als die Ersten und Ranghöchsten betrachteten, die Diener aller sein wollen und es auch wirklich sind.'

Es war das erste Mal, dass mir in der Antwort, die ich dem enttäuschten Besucher aus Mitleid gab, dieser Grundsatz aufging, der die Welt auf den Kopf stellen könnte, wenn er allgemein angewandt würde.

Andere Besucher kamen, mit denen ich an langen Abenden über das Reich Gottes sprechen konnte. Dabei erfuhr ich immer deutlicher, dass mein Grundgedanke nur Wirklichkeit werden konnte, wenn er nicht mit Berechnung, sondern mit Liebe eingesetzt wurde.

Immer deutlicher erfuhr ich, dass das Reich Gottes, die erneuerte Welt, schon da war. Denn es gab ja überall Beweise für echte Liebe und echtes Dienen. Wir mussten nur lernen zu sehen und zu erkennen.

Natürlich mussten die meisten Menschen das andere Denken zuerst lernen. Es wurde mir klar, dass dieses Lernen eine große Kraftanstrengung bedeutete. Eine eingefahrene Rangordnung war auf den Kopf zu stellen. Am meisten würden sich die wehren, die bisher am meisten begünstigt waren. Die Reichen und Mächtigen.

Und es würde gefährlich werden. Die Armen würden die Botschaft möglicherweise so verstehen, dass sie nun die von Gott allein Geliebten seien, die die Reichen mit Gewalt auf den rechten Weg bringen müssten. Die Mächtigen könnten den Verlust von Sicherheit und Ordnung fürchten. Es war nicht schwer zu folgern, dass der Verkünder solch neuer Ordnung das erste Opfer der Verteidiger der alten werden würde.

Ich bin ganz sicher, dass die Gäste, die mir halfen, meinen Weg zu finden, Boten Jahwes waren. Nicht nur sicher, sondern froh, weil ich eine frohe Botschaft Jahwes erhalten hatte: Es wird eine neue Zeit heraufkommen, in der Menschenliebe und der Dienst aller an allen das Handeln bestimmen. In diesem Reich Gottes würde es keine Armut, keine Unterdrückung, keinen Krieg mehr geben. Und dieses Reich hatte schon begonnen, wenn auch erst In Ansätzen. In Samenkörnern.

Nur eines hielt mich noch zurück, diese frohe Botschaft öffentlich zu verkünden. Das war Johannes!

Ich wollte auf keinen Fall neben ihm auftreten. Ich war mir sicher, wir beide, obwohl wir uns achteten, sogar Freunde waren, konnten nicht beieinander im Volke wirken. Was sollte ich tun?

'Gott wird dir ein Zeichen geben' hatte Johannes gesagt Als er von Herodes eingesperrt wurde, erkannte ich, dass er selbst dieses Zeichen geworden war. Die Stimme des Rufers in der Wüste war verstummt. Mein Weg begann.

Sollte ich nicht an die Wirklichkeit dessen glauben, was nach und nach in mir zur Gewissheit geworden war?

Jahwes Neue Welt ist schon da. Zwar noch klein und schwer zu erkennen, aber wer dieser guten Botschaft glaubt, der findet sie!

Nun weißt du, Johanna, warum ich ganz sicher bin. Grüß deinen Mann!"

Mehr als durch seine Reden wirkte Jesus durch sein Leben und seine Einstellung zu den Ereignissen. Niemals kehrte er den Rabbi heraus, den seine Jünger bedienen müssen, wie das sonst üblich ist. Eher schon bediente er seine Jünger. Aber das ohne besondere Feierlichkeit, sondern wie es eben kam. Das führte dazu, dass jeder sich für alle verantwortlich fühlte. Ohne Ansehen von Rang und Namen, Reichtum oder Geschlecht.

Alle waren mit dem Einfachsten zufrieden, aber ebenso freuten sich alle, wenn z.B. ich Wein mitbrachte, und Brot, Käse oder Fisch. Dann gab es oft ein richtiges kleines Fest, wozu wieder alle eingeladen waren, die vorbeikamen. Das waren so schöne Abende, wie ich sie anderswo nie erlebt habe, selbst nicht bei viel üppigeren Tafeln. Ich erlebte die Wirklichkeit von Gottes neuer Welt im Kreis der Jünger.

Jesus konnte sehr ernst werden, wenn diese Wirklichkeit gestört wurde. Das kam schon vor. Es gibt ja immer Leute, die Träume von Ehrungen und Rangordnungen haben. Einmal z.B. kamen einige Frauen mit ihren Kindern. Sie wollten Jesus sehen und ihn den Kindern zeigen. Weil der gerade nicht da war, glaubte nun einer der, Jünger, ihn vertreten zu sollen, und wollte die Frauen abweisen. Kinder und Frauen stören nun mal Ruhe und Ordnung. Andere Jünger gaben sich toleranter oder wollten dem 'Sheriff' nicht das Wort lassen. Es wäre vielleicht eine ernste Sache daraus geworden, wäre nicht Jesus erschienen und hätte die Streitenden zurechtgewiesen.

"Wenn ihr euch streitet, wer hier das Sagen hat, so sage ich euch: In unserem Kreis, im Reiche Gottes, ist der der Erste, der der Diener aller ist! Wohlgemerkt der Diener! So, und nun laßt die Kinder und ihre Mütter kommen!"

Flugs waren die Kinder bei ihm und umringten ihn, natürlich mit lautem Geschrei. Sie rissen an ihm herum und begannen mit ihm zu spielen. Die Jünger, ich eingeschlossen, standen reserviert in einiger Entfernung und sahen zu. Als er es bemerkte, löste er sich ein wenig aus der kindlichen Umklammerung, bat uns und die Mütter, sich hinzusetzen. Dann nahm er eins von den kleinsten Kindern, stellte es auf einen Stein, damit es jeder sehen konnte, und sagte:

"Seht dieses Kind! Es ist ganz da, ganz in der Gegenwart, ganz im Vertrauen auf seine Mutter, gradlinig und einfach in seinem Denken, bereit zum Lachen und zum Weinen. Jedes Kind eine Hoffnung für alle Menschen? So ein Kind ist im Reich Gottes. Wehe dem, der es daraus vertreibt, der ihm das Vertrauen nimmt, die selbstverständliche Hoffnung, die Fähigkeit zu lieben. Im Reiche Gottes, vor Gott sind wir alle Kinder. Ist er nicht unser aller Vater?"

Frauen sind schnell dabei, wenn ihre Kinder wichtig genommen werden. Da waren wir Frauen uns sofort mit den Müttern einig. Aber im Gespräch wurde uns bald klar, dass Jesus nicht einfach einem vagen Gefühl nachgegeben, sondern etwas Wichtiges vom Reiche Gottes gesagt hatte. Seine Wertstrukturen stellten die unserer Welt auf den Kopf. Der Diener wichtiger als der Bediente, der Kleine größer als der Große. Und weiter: der Vertrauende richtiger als der Misstrauische, der Hilflose stärker als der Mächtige.

Mir war klar, wie gefährlich solche Gedanken für Jesus und auch für seine Jünger und uns waren. Mich aber rissen sie mit. Vor mir eröffnete sich die Vision einer neuen Welt, wie sie die Propheten schon angedeutet hatten. Durch Jesus aber bekam sie ganz neue Lebenskraft. Für kurze Zeit erschien mir Jesus glänzend, wie aus einer anderen Welt, umgeben von den Gestalten der Geschichte unseres Volkes. Für kurze Zeit? Nein, wenn auch der Alltag damals wiederkam, so habe ich doch den Glanz immer noch vor meinen Augen. Den Glanz einer sicheren Hoffnung, den Glanz einer wunderbaren und zugleich ganz realen Zukunft!

4

Es war schon dunkel, als ich an diesem Abend nach Hause kam. Chuza war noch nicht da. Herodes feierte ein Fest, einen 'Herrenabend', zu dem Frauen nicht oder nur als Schautänzerinnen zugelassen waren. Natürlich wurden erlesene Speisen und Getränke serviert. Mein Mann erzählte aber auch immer von allerlei Verrücktheiten, die bei solchen Gelegenheiten passierten. Vor allem die widerlichsten Witze über die 'Weiber', zotige Schilderungen erotischer Heldentaten.

Diesmal kam er vollkommen schockiert nach Hause. Voller Wut zertrümmerte er eine Keramikschale, die ihm Herodes früher einmal geschenkt hatte. So kannte ich ihn gar nicht und war ernsthaft besorgt. Auch um mich selbst!

Schließlich setzte er sich auf mein Bett, und seine Wut löste sich in Weinen. Es dauerte lange, bis er endlich sprechen konnte und ich den Mord an Johannes dem Täufer erfuhr.

Meine Freundinnen hatten seinerzeit nur ironisch gelächelt oder amüsiert gelacht, als Herodes ihn hatte einsperren lassen, weil er ihm die illegale Ehe mit der Frau seines Bruders, der Herodias, vorgeworfen hatte. Herodes hatte die Sache nicht so tragisch genommen. Er wollte den Kritiker nur von der Straße haben, und hielt ihn in einer Art Ehrenhaft. Dort konnte er Freunde empfangen. Der König selbst unterhielt sich gern mit ihm. Das war vielleicht sein Unglück, denn Herodias hatte ihm seine Kritik nicht vergessen. Sein Einfluss auf den König konnte für sie gefährlich werden.

Heute Abend war ihre Stunde gekommen. Salome, ihre Tochter aus ihrer ersten Ehe, hatte vor ihrem Stiefvater und der ganzen Gesellschaft getanzt. Sie ist ein Mädchen nach dem Geschmack des Königs. Tanzen kann sie, das muss man ihr lassen. Heute aber scheint sie sich selbst übertroffen zu haben mit ihrer aufreizenden Kunst. Der König war jedenfalls so hingerissen und liebestoll, dass er sie aufforderte, einen Wunsch auszusprechen. Er wolle ihn erfüllen, was es auch sei. "Bei Zeus, beim Tempel, bei …, was du willst!

Salome war wohl etwas verwirrt, lief zur Mutter, um sich von ihr beraten zu lassen, wie sie die Chance am besten nutzen könne. Herodias bestimmte sie, den Kopf des Johannes zu fordern. Auf einer silbernen Schüssel sollte er hereingetragen werden.

Herodes scheint echt betroffen und traurig gewesen zu sein um seinen Freund und Kritiker. Er fürchtete wohl auch mögliche politische Folgen. Aber: Ein Mann, ein Wort. In solchen Dingen kennen Männer wie er nichts. Salome erhielt den Kopf des Johannes auf einer Silberschüssel. Die verworfene Gesellschaft tobte Beifall. Chuza ging angeekelt und verstört nach Haus.

Die Nachricht von dieser Mordtat verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Jesus wusste es schon, als ich am Tag darauf zu ihm kam. Die Jünger diskutierten diesen neuen Beweis von Machtmissbrauch durch den König. Ihre Trauer war gemischt mit unterdrückter und hilfloser Wut.

Später kamen dann eine ganze Anzahl von den Johannesjüngern zu Jesus. "Was soll werden, Meister? Wir hatten gehofft, Johannes werde sich bald als der verheißene Messias offenbaren. Nun ist er tot. Ermordet! Alle unsere Hoffnungen sind hin!"

Jesus schaute sie an, freundlich, offen, wie immer. Diesmal aber auch noch voller Mitleid. Man merkte, er fühlte ihren Schmerz als seinen eigenen. Nach langem Schweigen sagte er dann etwa folgendes:

"Ihr müsst mal beim Propheten Jesaja nachlesen. Da steht über den Messias geschrieben, dass der Knecht Gottes viel leiden müsse, weil er von den Menschen gequält und geschlagen werde. Selbst den Tod werde er erleiden müssen. Es spricht also nicht gegen den Messias, wenn er ins Gefängnis kommt und ermordet wird!"

"Aber er hat uns vom Gefängnis aus zu dir geschickt und fragen lassen, ob du der Messias seiest. Du hast damals etwas dunkel gesagt: 'Blinde sehen, Lahme gehen, den Armen wird eine Botschaft verkündet.' So hast du gesprochen."

"Ja, das habe ich damals gesagt und ich hoffe, Johannes hat mich auch verstanden. Ihr aber solltet das Reich Gottes nicht so sehr mit einem bestimmten Menschen in Verbindung bringen. Es wird noch eine Menge Männer geben, die sich als Messias bezeichnen. Sie werden auch viel Zulauf haben. Aber das Reich Gottes wird nicht von einem Messias heraufgeführt, der politische Ziele verfolgt und politische Versprechungen macht. Auch Kyros, der Perserkönig, ist als Messias gefeiert worden. Er war aber nicht 'der Messias'. Sucht also nicht nach einem Messias, sondern nach dem Reich Gottes, nach Gottes neuer Welt. Den wahren Messias werdet ihr dann zugleich auch finden!"

Einige der Johannesjünger blieben bei uns, andere zerstreuten sich oder warteten in kleinen Gemeinschaften auf die Offenbarung des Messias Johannes. Sie taten mir leid in ihrer Traurigkeit. Ich glaube, Jesusging es auch so. Als sie gegangen waren, sagt Jesus zu uns: "Johannes ist der Bote Gottes, unseres Vaters. Einer von den Großen! Der Vater schickt uns immer wieder solche Boten. Viele kleine und manchmal einen Großen. Er streut sie aus wie ein Bauer, der Samen auf seinen Acker streut. Und so, wie jedes Samenkorn sterben muss, damit es Frucht bringt, so müssen auch die Boten Gottes ihr Leben hingeben, damit sie fruchtbar werden für die Menschen. Bleibet darum treu, wie Johannes treu geblieben ist. Dann werdet ihr, wie das Samenkorn, fruchtbar werden. Gott wird euch das Leben neu schenken."

Er merkte wohl, dass wir beunruhigt waren, weil wir unser Leben hingeben sollten. Natürlich verstanden wir darunter, dass wir uns gewaltsam umbringen lassen müssten. Darum nahm er noch einmal das Wort:,, Bedenket, Johannes gab sein Leben nicht erst hin, als Herodes ihn enthaupten ließ, sondern schon, als er sich aufmachte, Gottes Botschaft zu verkünden. Jeder, der anders denken lernt, stirbt für sein bisheriges Leben. Er tritt in Gottes Neue Welt ein. Der Vater erweckt in ihm neues Leben. Habt ihr das nicht auch erlebt? Noch einmal: Nur das Samenkorn, das stirbt, bringt Frucht. Nur der Mensch, der für diese Welt mit ihrem Luxus, ihrer Macht, ihren Zwängen stirbt, weil er anders denken lernt, erhält neues Leben.

5

Nach dem Mord an Johannes änderte sich das Leben unserer Gemeinde um Jesus. Manch einer wurde vorsichtig und ließ sich nur ungern in unserer Nähe sehen. Aber ein innerer Kern blieb Jesus treu. Nur die, die ohnehin nichts zu verlieren hatten, die Armen und kleinen Leute, kamen immer wieder in kleinen oder größeren Gruppen und hörten Jesus zu. Mein Mann machte keine Einwendungen gegen meine Besuche bei Jesus. Im Gegenteil, ich konnte manchmal mehrere Tage hintereinander dort bleiben. Er stattete mich reichlich mit Geld aus, so dass ich Jesus wenigstens auf diese Weise unterstützen konnte.

Natürlich nahmen wir Frauen uns der täglichen Versorgung der manchmal recht zahlreichen Gruppe an. Es gab aber andere Aufgaben, wie etwa die Pflege von Kranken, die auf Jesus warteten, oder die Betreuung von Kindern, deren Mütter Jesus gerne zuhören wollten. Doch unsere nie abreißende Aufgabe war die Zubereitung von Mahlzeiten. Diese Arbeiten beachteten wir selbstverständlich als Dienst an allen und wir wurden dabei ebenso selbstverständlich von den Männern und von Jesus unterstützt, wenn sie nicht andere Aufgaben zu erfüllen hatten.

Nur Wasserholen blieb das Privileg oder die Last der Frauen. Die Männer werden ja an den Brunnen nicht geduldet. Jesus selbst hatte zwar schon bewiesen, dass er dieses Tabu nicht für ein Gesetz Gottes ansah. Aber warum sollte man jeden Tag den Widerstand kleiner Geister herausfordern? So gingen wir Frauen eben. Mir war dabei immer etwas unbehaglich, weil ich nicht gerne von den Kollegenfrauen gesehen werden wollte. Die hätten ganz bestimmt hinter meinen Rücken die Nase gerümpft. Wie sollten sie auch anders. Sie kannten doch Jesus nicht, der im Stande war, die Welt von Grund auf zu verändern.

Meist gingen wir zu zweit zum Brunnen. Ich tat mich gerne mit einer Maria zusammen, die aus Magdala stammte. Von ihr hatte ich gehört, Jesus habe ihr sieben Teufel ausgetrieben. Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, hatte aber lange nicht den Mut, sie danach zu fragen. Sie war immer so fröhlich, konnte unter den widrigsten Umständen Brot backen, war immer bereit, das gerade Notwendigste zu tun. Auf eine wundersame Art war sie in Jesus verliebt, und sie hatte ihm ja auch später bis nach Golgatha ihre einzigartige Treue gehalten. Ich mochte sie sehr gern.

Eines Tages fragte ich sie dann doch nach den 'sieben Teufeln'. Sie lachte: "Ja, die Leute reden viel. Ich habe sie nicht gezählt, vielleicht waren es auch noch ein paar mehr."

Dann wurde sie ernst: "Bevor ich Jesus kennenlernte, hatte ich mir ein Leben aufgebaut, wie eine Bühne. Ich stand im Mittelpunkt. Alle anderen Menschen, ob Sklaven oder Freie, ob Männer oder Frauen, waren Statisten, die eigentlich keinen anderen Zweck hatten, als für mich da zu sein. Zu meiner Bedienung, Unterhaltung oder Lust. Keinem billigte ich ein Eigenleben zu. Sie hatten alle nur Sinn durch mich. Ihre Freuden, ihre Schmerzen, ihre Sorgen, ihre-Hoffnungen waren mir völlig gleichgültig.

Auch Jesus sollte einer dieser Statisten werden, einer, den man als Frau anlächelt und wieder vergißt. Aber da hatte ich mich verrechnet. Für ihn ist jeder wichtig, und jeder bleibt doch er selbst Auch ich, wenn sich auch mein Leben auf den Kopf stellte. Zum ersten Male erlebte ich an Jesus den Wert und die Eigenpersönlichkeit eines anderen Menschen. Dann bemerkte ich das Gleiche auch an allen anderen in meiner Umgebung. Sie waren auf einmal Menschen wie ich und ich wie sie."

Neugierig, wie das zugegangen sei, fragte ich danach. Sie erzählte auch willig weiter: "Oh, das war geradezu lächerlich, aber für mich auch zuerst ziemlich peinlich. Ich wollte ihn für mich haben. Schickte ihm einen Boten, der ihm eine Einladung überbrachte. Ich empfing ihn in meinem schönen Innenhof, der bisher jedem imponiert hatte. Er aber sah hinter all der Herrlichkeit nur den Protz. Das habe ich natürlich nicht sofort mitbekommen. Ich sah ihn nur stehen und sich umschauen. Langsam und aufmerksam. Dann kam er auf mich zu, begrüßte mich herzlich. Nicht höflich und distanziert, nein eher wie ein Kind. Mich, die Dame, auf deren Wink sonst jeder flog! Da war das Staunen an mir. Noch ehe ich mich richtig gefaßt hatte, hatte ER mich schon aufgefordert, mit ihm zu gehen. 'Wohin?' fragte ich. 'In das Reich Gottes! Komm und sieh!' Und tatsächlich ging ich mit, aufgeputzt wie ich war. In hauchdünnen Sandalen. Der Weg war nicht weit, wenn man die Strecke mißt. Mich aber führte er in eine andere Welt, in unsere hier.

Du kannst dir das Aufsehen vorstellen, als Jesus mit mir als Beute ankam. Er selbst holte erstmal eine Schüssel mit Wasser und wusch mir mit einem Schwamm das Gesicht. Das gab ein Gelächter. Einer machte sich auf, um mir vernünftige Kleidung zu holen. Trotz des Spaßes, den ich ihnen machte, waren alle sehr lieb zu mir. Bald war ein kleines Mahl bereitet, und wir aßen und tranken alle zusammen, wobei jeder jeden bediente, wie du es ja von uns kennst. Hatte ich bisher Jesus für mich haben wollen,so erlebte ich jetzt Menschen verschiedenster Herkunft und Denkart, die alle wetteiferten, einander dienstbar zu sein. Mein Verlangen nach Jesus verwandelte sich in Liebe zu allen, die zu ihm hielten. Mein Haus habe ich nie wieder betreten. Mein Verwalter kommt alle paar Tage und bringt etwas Essen für uns alle. Er ist ein rechtlicher Mann, der auch immer Geld für Judas Armenkasse mitbringt. Aber mir kommt er vor wie ein Relikt aus einer versunkenen Welt, in der ich einmal gelebt habe."

Ganz anders wie ich, die immer nach der Zukunft und nach Gestaltung fragt, lebt Maria wie eine verliebte junge Frau im Heute. Sie scheint keinerlei Gedanken an ein Morgen zu verschwenden. Sie ist glücklich in einem Kreis von Menschen, die sie gern hat, weil sie zu Jesus gehören. Von denen weiß sie sich anerkannt und geliebt.

6

Ich berichtete natürlich meinem Mann, was Maria mir erzählt hatte. Abends vor dem Schlafengehen. Er freute sich diebisch über die Entführung in das Reich Gottes. Doch dann wurde er plötzlich ganz nachdenklich. Ihm war eine Nachricht eingefallen, die Jesus betraf.

Jesus sei eingeladen worden, berichtete er, von einem angesehenen Lehrer und Theologen. Einem Akademiker namens Simon. Aber dieser Herr habe es nicht für nötig gehalten, seinen Gast der Sitte gemäß mit Begrüßungskuss, mit Wasser für die Füße und mit einem Tropfen Öl für die Scheitel willkommen zu heißen. Offenbar habe er eine Einladung an Jesus für eine Art Almosen an einen armen Teufel gehalten. Einem, der weder ein Studium noch geregelte Einkünfte zu haben schien. Chuza knirschte vor Wut mit den Zähnen, als er mir das erzählte. Er kennt den Hochmut, den gerade erfolgreiche Akademiker aufbringen können.

Jesus scheint keine Miene verzogen zu haben. Er kämpft ja nie um sein eigenes Recht oder eigenes Ansehen. Vielleicht war er diesen Stil auch längst gewöhnt und daher fähig, darüber hinwegzugehen.

Ich freute mich über den Eifer, den Chuza für Jesus zeigte, als ein Zeichen, dass auch er von ihm gewonnen war. Mein Mann aber erwiderte den Kuss, den ich ihm in der Freude gab, nur sehr flüchtig. Er hatte noch etwas.

"Das Wichtigste kommt ja erst noch", sagte er. "Es war nämlich eine Frau, die wohl einen sehr schlechten Ruf hat, in den Raum gekommen, in dem Simon mit seinen Gästen zu Tische lag. Sie hatte sich hinter Jesus gehockt, seine Füße gefasst und still und bitterlich geweint.

Ihre Tränen feuchteten die Füße an. Sie trocknete sie wieder mit ihren Haaren. Schließlich tat sie, weswegen sie gekommen war: Sie salbte seine Füße mit wohlriechendem Öl. Bis dahin hatte das offenbar niemand bemerkt. Erst der Duft des Öles verriet den ganzen Vorgang. Nun aber sprang Simon auf, stürzte auf die Frau zu, griff sie beim Handgelenk, riss sie hoch und rief: 'Sollte man es glauben! Dieser Mann will ein Prophet sein und hat keine Ahnung, was das für ein Weibsstück ist, das seine Füße berührt!'

Fast ebenso schnell wie Simon war Jesus auf den Beinen. Er nahm die Frau schützend in seine Arme, lächelte seinen Gastgeber entwaffnend an und fragte ihn: 'Simon, darf ich dir eine Frage vorlegen?' Natürlich fühlte sich Simon geehrt, weil Jesus ihm als Fachmann eine Frage vorlegen wollte. Da war er in seinem Element. 'Frage nur!' antwortete er.

Jesus erzählte ihm erst einmal eine kurze Geschichte. Ein Mann hatte zwei Schuldner. Der eine war ihm 400 Silberstücke schuldig, der andere 40. Beide konnten ihre Schuld nicht bezahlen. Da erließ er beiden die Schuld. Nun meine Frage: Welcher von den beiden wird ihn wohl mehr lieben?' 'Natürlich der, dem 400 Silberstücke erlassen wurden.' 'Siehst du! Dieser Frau hier ist offenbar eine große Schuld erlassen. Darum ist so dankbar. Sie hat mir die Füße mit ihren Tränen gewaschen und sie hat meinen Scheitel mit Öl gesalbt. Das hattest du nicht getan, als ich dein Haus betrat, obwohl es doch Sitte ist'. Und zur Frau gewandt fuhr er fort: 'Geh nur jetzt, du kannst darauf vertrauen, dass dir deine Schuld vergeben ist.'

Daraufhin muss es unter den Gästen einen mächtigen Disput gegeben haben, ob denn Jesus Sündenschuld vergeben könne, was doch nur Jahwe selbst kann.

Auch wir sprachen darüber noch lange an diesem Abend. Unsere Gedanken kreisten um die Frage: 'Ist es eine Anmaßung oder hat Jesus die Gewalt, Sündenschuld zu erlassen? Wenn ja, woher?' Eigentlich beschäftigte sich nur mein Mann mit dieser Frage. Ich selbstvertraute ganz fest auf Jesus, seitdem ich ihn in diesem ganz anderen Licht gesehen hatte. Ich ahnte ein Geheimnis, mir fehlten aber die Worte, meinem Mann etwas davon mitzuteilen. Schließlich kamen wir überein, ich solle Jesus selbst danach fragen.

Das tat ich bei nächster Gelegenheit. Es belustigte ihn, dass ich von dem Vorfall bei Simon wusste. "Das hast du wohl von deinem Mann?" mutmaßte er. Auf die Frage nach seiner Vollmacht zeigte er auf eine Palme, die mitten in einem trockenen Landstrich wuchs. "Sieh mal diese Palme dort! Sie wächst und gedeiht in einem trockenen Land. Da darf ich doch wohl annehmen, dass ihre Wurzel Wasser gefunden hat." Ich nickte. "Und wenn ein Mensch etwas tut, das nicht zu seinem eigenen Nutzen ist, sondern eine Liebeszuwendung an einen anderen Menschen, dann dürfen wir doch annehmen, dass der Geist Gottes in ihm wirksam ist. Gottes Gnade! Die aber duldet keine Sündenschuld. Wenn also ein Mensch etwas jenseits eines eigenen Nutzen tut, dann handelt er aus Freude über seine Befreiung von Schuld, ob er dies nun weiß oder nicht. Warum sollte ich ihm das nicht sagen? Das könntest du ebenso gut wie ich." Wieder erschien mir Jesus in diesem sonderbaren Licht, das mich so froh machte.

Mein Mann freute sich auch über meinen Bericht von dem Gespräch mit Jesus. Er machte uns beide glücklich, fühlten wir uns doch in der gleichen Lage wie die Frau im Hause des Simon. Langsam ging uns beiden auf, was Erlösung, Befreiung bedeutete. Und wir begriffen, warum Jesus sogar keinen Sinn für Tagesprobleme dieser Welt hatte. Es wurde uns klar, dass die sich alle 'dazu' regelten, wenn wir das Wirken der Gnade Gottes in unseren Mitmenschen erkennen konnten, weil ihnen Dinge wichtig wurden, die nicht einen Nutzen für sie selbst, sondern für andere hatten. Wir waren glücklich, weil wir hofften, dass das auch bei uns so sein könnte. Und wir begannen die Signale des Reiches Gottes unter den Menschen zu erkennen, in dem der Dienende mehr ist als der Herrschende, der Mensch wichtiger ist als das Gesetz, Befreiung und nicht Zwang und Gewalt der Weg ist, die Welt zu verändern.

Eigentlich stimmt es nicht, wenn ich sage, Jesus interessiere sich nicht für die Tagesprobleme dieser Welt. Das muss ich einschränken auf politische, finanzielle und wirtschaftliche Probleme. Sobald dagegen Menschen direkt betroffen waren, konnte er sehr energisch für deren Belange kämpfen. Dazu gehören sicher die vielen, oft ganz unglaublichen Heilungen von Kranken, von Aussätzigen und von Menschen, die von Dämonen besessen waren. Diese Dinge sind ja in aller Munde. Aber ich meine, sein noch größerer Einsatz galt Menschen, die von ihrer Umgebung ins Abseits gedrängt wurden, weil sie sich nicht nach den allgemeinen Regeln richteten, sondern manchmal sogar massiv dagegen verstießen. Von seinem Eintreten für die Frau im Hause des Pharisäers Simon habe ich ja schon erzählt.

Eines Tages wurde es aber noch aufregender: Wir kamen gerade dazu, wie ein Schnellgericht gegen eine Frau gebildet worden war, der man Ehebruch vorwarf. In flagranti wollte man sie ertappt haben. Jesus schien vorbeigehen zu wollen. Schien, denn bestimmt arbeitete sein.

Kopf an einer Taktik zur Rettung der Frau, die er gar nicht kannte. Sie war in Not. Das reichte ihm zum Handeln. Ein paar Männer hatten sie vor den Ortsvorsteher gezerrt und begründeten lautstark ihre Anklage. Den Tod durch Steinigung forderten sie, weil die junge Frau den Mann betrogen haben sollte, mit dem sie verlobt, aber noch nicht verheiratet war. Ich fühlte mich an die Geschichte mit Susanna erinnert, die von Daniel aus der Hand ihrer Verfolger gerettet worden war. Aber Jesus suchte keine Neuauflage dieser Geschichte. Susanna war unschuldig, diese Frau nicht. Der Vorsteher wusste anscheinend nicht, was er mit der Frau und ihren brüllenden Anklägern anfangen sollte. Jesus näherte sich langsam. Vielleicht wollte er ihm Zeit geben, nach ihm als Strohhalm zu greifen. Und das tat er auch. Möglicherweise in der Nebenabsicht, die Gesetzestreue Jesus auf die Probe zu stellen. Wie dem auch sei, Jesus schaute auf die Frau, den Vorsteher, die aufgeregten Männer. Aber er sagte nichts.

Die Situation war äußerst gefährlich. Der Vorsteher konnte nämlich die Verantwortung für den Tod der Frau leicht auf die Zeugen abwälzen. Jeder der Ankläger war ja zugleich ihr Richter, dessen Schuldspruch darin bestand, dass er einen Stein auf die Frau warf. Jeden Augenblick konnte der erste Stein fliegen.

Der Vorsteher wendete sich also an Jesus und fragte nach seiner Meinung. Nun hatte der den 'Schwarzen Peter'. Jesus aber tat, als habe er nicht gehört, und schrieb mit dem Finger etwas in den Staub der Erde. Doch der Vorsteher ließ nicht locker. Da richtete sich Jesus auf und schaute noch einmal ruhig auf die Gruppe. Wir hinter ihm in atemloser Spannung. Ich fühlte die Hand Marias in der meinen. Wir waren beide dem Weinen nahe.

Da sagte Jesus, ohne die Stimme zu erheben: "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!" Dann schrieb er wieder mit dem Finger auf der Erde.

"Um Gottes willen!" flüsterte Maria. Auch ich hatte einen Schreck bekommen. Doch Jesus hatte schon gewonnen. Einer nach dem anderen verließen die Männer den Schauplatz. Keiner warf einen Stein. Als letzter verschwand der Vorsteher. Nur die junge Frau, die bisher in Todesangst starr dagestanden hatte, brach in Tränen aus. Jesus trat zu ihr: "Hat dich jemand verurteilt?" "Nein, Herr", kam es aus den Tränen. "Dann will auch ich dich nicht verurteilen. Geh nach Hause und werde deinem Mann eine gute Frau!"

Sie antwortete nicht, sondern ließ sich von uns nach Hause bringen. Später ist sie mir noch einige Male begegnet. Ich hatte dabei den sicheren Eindruck, sie sei glücklich. Ob die ganze Anklage eine Intrige war? Ob der Vorsteher davon gewusst hatte, aber zu feige war, gerecht zu entscheiden? Jesu Handeln jedenfalls war nur auf die Rettung der Frau angelegt. Später vor Pilatus hat er dann ganz allein gestanden. Niemand ist für seine Rettung eingetreten.

Als ich meinem Mann von dem Vorfall erzählte, wurde er nachdenklich und kam nach einigem Schweigen zu dem Ergebnis: "Die Ankläger müssen keine so ganz ungebildeten Leute gewesen sein. Das schließe ich aus der Wirkung, die die Anrede Jesu 'Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein' auf sie gehabt hat. Euch hat er einen Schrecken eingejagt, weil ihr fürchtetet, es könne einer dabei sein, der seine Ehe nicht gebrochen habe. Aber sie wussten, dass Jesus unter der Sünde den Treuebruch Jahwe gegenüber verstand. Der gerade wird ja in der Literatur oft als Ehebruch bezeichnet."

Ob er Recht hatte, weiß ich nicht. Doch als Jesus am Kreuz hing, wusste ich, dass der Bund mit Jahwe gebrochen war. Nach der Auferweckung wurde uns langsam, aber immer deutlicher klar, dass Gott einen neuen Bund begonnen hatte, nicht wie der mit den Israeliten allein, sondern mit allen Menschen.

Jesus machte seine Hilfe niemals abhängig von irgendwelchen Vorleistungen. Aber manchmal staunte er um so mehr über die Energie, die manche Leute aufbrachten, wenn sie um Hilfe bitten wollten. Einmal haben Männer das Dach abgedeckt, damit sie einen Gelähmten zu ihm hinablassen konnten. Durch die Tür war es wegen der vielen Menschen einfach nicht möglich gewesen, an Jesus heranzukommen.

Oder ein Hauptmann einer römischen Sicherungseinheit machte sich auf einen tagelangen Weg, um für einen Untergebenen um Heilung zu bitten. Dieser Vorfall hätte Jesus bei manchen Leuten allein schon unmöglich machen können. Welcher 'wahre Israelit' sprach denn mit einem römischen Soldaten! Jesus sah nur die Glaubenskraft des Mannes. Das reichte ihm.

Ähnlich war es auch mit einer heidnischen Frau, die ihn um Heilung von ihren gefährlichen Blutungen anflehte. Sie ließ sich durch den Hinweis Jesu auf seine Sendung zu den Juden allein nicht abschrecken, sondern begann eine Diskussion, in der sie die Frage aufwarf, ob denn nicht auch die Armen außerhalb Israels an Gottes Wohltaten für sein Volk teilhaben könnten. Diese Diskussion blieb damals noch stundenlang wach und ist heute noch nichtverstummt. Ja, die Frage, ob der Herr der Gott aller Völker sei oder nur für eine kleine bestimmte Auswahl, scheint mir neuerdings wieder ganz aktuell. Jesus jedenfalls war beeindruckt von der Phantasie und Glaubenskraft der Frau. Sie wurde geheilt. Jesus bekam ihretwegen Vorwürfe zu hören: Er sei schließlich für die Juden da. Seine Antwort regte die Leute noch mehr auf: "Zu Zeiten des Elischa gab es eine Menge Aussätzige in Israel. Durch ihn geheilt wurde aber nur der Syrer Naaman." Ein Sieg des Glaubens und der Hilfsbereitschaft über nationale Begrenzungen hinweg schon in der Königzeit.

Natürlich wurde auch die Frage nach dem Messias, wie überall, so auch im Jüngerkreis immer wieder besprochen. Manche glaubten, Jesus sei der Messias, manche zweifelten aber auch. Diese Frage existierte für Jesus gar nicht. Er betonte viel mehr immer wieder: "Zuerst das Reich Gottes, alles andere kommt von selber dazu". Aber er war schon ein thoratreuer Israelit. Darum machte es ihm schon etwas aus, ob er einen jüdischen Menschen vor sich hatte oder nicht. Nur siegte im Einzelfalle immer die Liebe zu dem, der gerade vor ihm stand.

Diese Grundhaltung hat er bei einer Gelegenheit auf seine Weise durch ein berühmt gewordenes Gleichnis dargelegt. Auf die Frage eines Schriftgelehrten, wie man am besten das ewige Leben gewinne, antwortete Jesus:,, Das weißt du doch, das steht doch im Gesetz. Was liest du da?" Der andere deklamierte schulmäßig auswendig die Thorastelle: "Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft, und deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst."

"Ja", sagte Jesus "das weißt du also. Wenn du so handelst, dann wirst du leben."

Der andere hatte sich vielleicht so einen schönen, langen Disput versprochen, oder er war verbittert, weil ihn Jesus in die Situation eines Schuljungen gebracht hatte, der eine Schriftstelle auswendig hersagen muss. Jedenfalls fragte er nun: "Wer aber ist mein Nächster?"

Jesus antworte mit dem Gleichnis von dem Mann, der unterwegs zwischen Jerusalem und Jericho von Räubern ausgeplündert und halbtot liegengelassen worden war und ausgerechnet von einem Samariter gerettet wurde, nachdem ein Priester und ein Levit ihn einfach liegen gelassen hatten. Alle verstanden, was damit gemeint war. Ein Nächster kann dir jeder werden, auch ein Fremder und sogar ein Feind.

Mir zeigten diese Ereignisse, dass Jesus immer deutlicher erkannte, dass seine Sendung nicht grundsätzlich auf Israel beschränkt sein konnte. Wie wären denn auch die offenbaren Gnadenerweise Gottes an Fremde zu erklären? Besonders, wenn man damit verglich, wie wenig seine Predigt und Wunderheilungen unter der eigenen Bevölkerung bewirkten. Da drängte sich ihm die Geschichte von Jona in Ninive auf. Ob er auch einmal die Idee hatte, außer Landes zu gehen, kann ich nicht sicher sagen. Er machte nur vorübergehende Absetzbewegungen in die Dekapolis östlich des Sees und an die Mittelmeerküste, sonst ist mir nichts bekannt.

Dennoch verstummte im Jüngerkreis die Kritik nicht. Die Zeloten wollten nicht wissen, dass er sich mit Heiden oder Samaritern abgab. Ob sie dabei politische Hintergedanken hatten und Jesus für ihre Politik nutzen wollten, möchte ich nicht einmal vermuten. Chuza war allerdings davon überzeugt. "Denn," sagte er, "wenn Parteileute Jesus zu dem Befreier in ihrem Sinne aufbauen wollen, dann darf er keine Kontakte zu Samaritern und Heiden haben, wenn die auch im Einzelfalle menschlich verständlich sein sollten." Ich, die die Jünger persönlich kannte, wollte keinen solcher Hintergedanken für fähig halten, ich war der Meinung, selbst ein solcher Argwohn passe nicht zu meiner Vorstellung vom Reiche Gottes, das ich im Jüngerkreis greifbar erlebte. Auch jetzt will ich meine Meinung in dieser Sache nicht ändern. Auch nicht Judas betreffend.

7

Judas scheint mir der Einzige, der sich überhaupt Gedanken um Jesu Zukunft gemacht hat. Eines Tages legte er ihm so etwas wie ein Aktionsprogramm vor. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, dass Jesus sich seinerzeit, als die vielen Menschen in der Wüste gespeist worden waren, der Ausrufung zum König entzogen hatte. Ich war damals nicht dabei gewesen, hatte aber natürlich schon viel davon gehört. "Damals, das wäre der richtige Zeitpunkt gewesen. Damals, da hattest du die Leute hinter dir! Sie wären für dich durchs Feuer gegangen. Du hättest die Römer verjagen können. Und den Herodes dazu. Du wärest ein zweiter David geworden!"

"Ich will aber kein zweiter David sein! Sieh mal, Judas, das Reich Gottes, man sollte es vielleicht besser 'Gottes Neue Welt' nennen, wird nicht durch Gewalt verwirklicht. Lies mal beim Propheten Jesaja die Bildvergleiche von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden. Oder von den Kindern, die am Loch der Viper spielen."

"Ja, die Stellen kenne ich. Aber sie sind doch Beschreibungen des Zustandes im Reiche Gottes. Die haben aber keinen Bezug auf dessen Zustandekommen."

"Lieber Judas, in einem Krieg gibt es immer Menschen, die Gewalt anwenden, und solche, die Gewalt erleiden. Meist auf beiden Seiten. Wie soll denn auf diese Weise ein Reich des Friedens zustande kommen können. Kennst du die Menschen so schlecht? Du könntest übrigens nicht besser argumentieren, wenn du die 'Pax Romana', das Friedensreich der Römer, verteidigen wolltest. Deren Gewaltregiment spüren wir doch jeden Tag."

Judas zog den Kopf ein, aber sein Nationalismus war keineswegs besiegt. So kam es mit veränderten Argumenten zu einem weiteren Gespräch. Wir merkten alle, dass er etwas Besonderes auf dem Herzen hatte, und spitzten deshalb sofort die Ohren.

Judas begann mit einer Darstellung der Lage: "Wir sind hier nun schon viele Monate zusammen. Manchmal sind wir viele, manchmal nur der engere Kreis der Apostel und der Frauen. Wir alle fühlen uns wohl bei dir. Ich glaube, wir alle ahnen etwas von dem, was du das Reich Gottes oder Gottes Neue Welt nennst. Aber es macht doch auch jedem von uns Kummer, dass deine Predigt so wenig Erfolg hat. Ja anfangs, da kamen die Leute noch zuhauf, weil es etwas Neues war, was sie von dir hörten. Und natürlich wegen der vielen Heilungen. Aber nun? Was sind wir schon! Ein Häufchen Unentwegter, die an dich und dein Wort glauben."

Er ließ sich einen Atemzug Pause, dann fuhr er fort: "Wir müssen etwas tun! Aber wir können ja nur auf dem Lande herumlaufen. In die Städte wagen wir uns nicht mehr wegen dieses Herodes. Wie soll es denn so je zu einem Reich Gottes kommen?"

Jesus schwieg zunächst. Ich war überzeugt, dass Judas ihm nichts Neues gesagt hatte, denn er setzte dann dessen Lagebericht fort: "Ja, da hast du recht, Judas! Wir können sicher sein, wenn in Tyros oder Sidon solche Zeichen geschehen wären wie hier in den Städten am See, dann hätten sich die Heiden bestimmt zum Reiche Gottes bekehrt. Das haben uns ja die wenigen Berührungen mit ihnen gezeigt."

Diese Entwicklung der Diskussion war nun aber gar nicht in Judas' Sinne. Keinesfalls wollte der, dass Jesus im Heidenland predigen sollte. Sein Vorschlag war ganz anders.

"Jesus, du musst nach Jerusalem und dort deine gute Botschaft von Gottes neuer Welt, die schon im Kommen, bei uns schon da ist, verkünden. Hier streiten wir uns mit provinziellen Pharisäern und Synagogenvorstehern oder Kantoren herum. Dort in der Hauptstadt sitzen Leute‚ die deine Predigt, deine Vorstellungen aufnehmen und umsetzen können. Wenn Jerusalem mitmacht, hört der Widerstand der kleinen Geister auf. Am Osterfest, das wäre der richtige Zeitpunkt!"

Jesus hatte Bedenken: "Wie oft schon habe ich um die Jerusalemer geworben. Wie eine Henne, die ihre Küken lockt. Aber sie haben sich verweigert. Nicht anders als die Leute hier."

"Ja, richtig, aber diesmal müssen wir uns an den Hohen Rat unmittelbar wenden. Das sind die richtigen Leute‚ die deine Botschaft verstehen und politisch auswerten können. Unser Volk muss endlich frei werden! Frei durch die Königsherrschaft Gottes!"

Jesus winkte ab: "Zunächst will ich noch etwas anderesversuchen."

Bei nächster Gelegenheit fragte ich Jesus nach seiner Meinung und seinen Plänen. Er antwortet: "Johanna, ich sehe eine Entscheidung auf mich zukommen, die sehr gefährlich sein wird. Wenn ich Judas' Rat folge, wird das eine Sache, die mir ebenso gut mein Leben kosten kann. Wie soll ich dem Hohen Rat klarmachen, wie dem Herodes, wie dem Pilatus, den Sadduzäern, dass das Reich Gottes keine Konkurrenz zu einem politischen Reich ist. Wie unseren Oberen, das dieses Reich eine Neue Welt ist, die schon begonnen hat. Und dass sie unter den Friedfertigen, den Armen, den Barmherzigen, den Unmündigen zu finden ist. Aber nur, wenn man umkehrt und neu sehen lernt. Wie soll ich unsere Gemeinschaft hier als den Anfang der Neuen Welt vorstellen, die doch nur erkennbar ist, wenn man sich vollständig auf sie einlässt? Johanna, ich sage dir, all diese Leute stützen sich auf ihre Macht, auf ihr Geld oder auf sonstige trügerische Sicherheiten."

Er schwieg ein paar Minuten, dann schloss er: "Solche Leute können das Reich Gottes nicht finden, weil sie immer versuchen werden, die Welt um sich so zu ordnen, das ihr Besitzstand gewahrt bleibt. Erinnerst du dich nicht mehr an unsere Begegnung mit dem reichen jungen Mann, der gerne zu uns gekommen wäre. Aber er hielt an seinem Besitz fest und wollte keinesfalls diese vermeintliche Sicherheit aufgeben. Oder warst du nicht dabei? Die anderen jedenfalls hat meine Erklärung sehr glücklich gemacht, merkten sie doch auf einmal, dass sie selbst frei waren, weil sie allen Besitz im Stich gelassen hatten."

Diese Worte machten mir klar, welchen Weg ich mit Jesus zurückgelegt hatte, seitdem ich mich zum ersten Mal zu ihm hatte bringen lassen. Ich war froh darüber, als ich merkte, dass mir weder der Lebensstil meines Standes noch etwas bedeutete, noch dass ich mich auf mein gesichertes Einkommen verlassen wollte.

Im Gespräch mit meinem Mann versuchten wir beide, diese Neue Welt, in der wir schon zuhause waren, in ihrem Wesen zu erfassen. Einerseits hatte sie etwas an sich, das wie eigenes selbständiges Leben war. Wir trauten ihr zu, dass sie sich auch weiter in die Zukunft würde entwickeln können. Andererseits schien uns das ohne Jesus gar nicht möglich. Hier eigenes Leben, dort Abhängigkeit von Jesus, schien uns ein unlösbarer Widerspruch.

Als ich wieder zu Jesus kam, hatte der vorerst für uns alle etwas ganz anderes: Es sandte uns je zu zweit aus, um auf den Dörfern und in den kleinen Städten die Botschaft von Gottes neuer Welt zu verkünden. Immerhin beteiligten sich an dieser Aktion 72 Jünger. Ich hätte gar nicht gedacht, dass wir so viel zusammenbringen würden. Die Freiwilligen mussten ja von ihrer Verkündigung selbst vollständig überzeugt sein. Jesus verlangte dazu von allen Teilnehmern, dass sie keinerlei Geld mitnahmen, kein Gepäck. Nicht einmal Wäsche zum Wechseln. Sie sollten ganz und gar auf Gott angewiesen sein.

Ich muss bekennen, ich musste mein ganzes Vertrauen zu Jesus zusammenreißen, so unmöglich schien mir dieses Unternehmen. Unser einfaches Leben im Kreis der Jünger wurde mir plötzlich zu einer Oase der Geborgenheit und das Land, wohin wir wandern sollten, zu einer feindlichen Wüste.

Aber als wir dann in Jesu Auftrag über das Land wanderten und die Leute besuchten, erfuhren wir, dass es uns an nichts fehlte. Teils deswegen, weil wir wirklich mit Wenigem zufrieden sein wollten, aber auch und hauptsächlich, weil die Menschen unsere Botschaft gut verstanden und uns gerne bei sich aufnahmen.

Nächtelang haben wir mit unseren Gastgebern zusammen gesessen und ihnen von Gottes Neuer Welt erzählt. Wir hatten sie ja unter uns schon fassbar und wirklich erlebt. Weil in unseren Worten immer der Name 'Jesus' fiel, wurden wir auch immer wieder gefragt, ob denn dieser Jesus vielleicht der 'Messias' sei, oder 'Sohn Davids', oder der 'Menschensohn', oder was auch immer sie für Titel für den erwarteten Erlöser wussten.

Ich wanderte zusammen mit Maria. Der mit den sieben Dämonen. Sie war in solchen Fällen gern bereit, für Jesus jeden Titel in Anspruch zu nehmen. Für sie war er ja ohnehin Ein und Alles. Und sie konnte die Leute begeistern. Sie brauchte nur die Geschichte ihrer Bekehrung zu erzählen. Aber wir beiden gaben uns alle Mühe, nach Jesu Vorbild immer wieder darauf zu hinzuweisen, dass nicht der Messias gesucht werden dürfe, sondern das Reich Gottes, Gottes Neue Welt, die schon da sei, für die man aber eine Bekehrung, ein Umdenken brauche, damit man sie sehen könne. Alles andere, auch der Messias, käme dann dazu. Viele Leute glaubten uns. Und ich begann Jesus mit wieder neuen Augen zu sehen.

Als wir von dieser Missionsreise zurückkehrten, gab es natürlich eine Menge zu erzählen. Die meisten, wenn nicht alle, waren begeistert von ihren Erlebnissen. Auch Judas übrigens. In meinem Kopf aber geisterte noch immer die Frage nach dem Verhältnis vom Reiche Gottes zu Jesus. Die Gespräche unterwegs hatten meine Gedanken noch drängender werden lassen. Was sollte werden aus den hoffnungsvollen Ansätzen, was aus unserer Gemeinschaft um Jesus, wenn dem etwas zustoßen sollte? Ersetzen konnte ihn doch niemand. Meine Gedanken endeten alle in Jerusalem. Die Angst flüsterte mir als sicher ein, dass unsere Zukunft dort zu Ende sein müsse. Darum fragte ich Jesus, ob wir nicht in der Art der Missionsreise fortfahren könnten, bevor wir uns auf die gefährliche Reise nach Jerusalem begeben sollten. Schließlich könne ein breiterer Erfolg in Galiläa auch in Jerusalem nützlich sein.

"Ganz bestimmt wird dieser Weg weiter gegangen werden! - Aber diese Reise zum Hohen Rat in Jerusalem ist jetzt wichtig."

Chuza hatte ähnliche Befürchtungen wie ich. Er schüttelte den Kopf. "Ich kann bestimmt gar nichts machen. In Jerusalem spielt Herodes kaum eine politische Rolle. Und die Finger verbrennt er sich auch nicht gern. Im Gegensatz zu Jesus ist er ein Fuchs."

Nach kurzem Schweigen wechselte er das Thema: "Johanna, du hast mir ja nun eine Menge erzählt von Jesus. Von dir weiß ich, dass er einerseits ein frommer Jude ist und immer wieder versichert, er wolle keineswegs das Gesetz aufheben, sondern erfüllen, dass er aber andererseits das Gesetz nicht über den Menschen stellt, sondern betont, es sei für den Menschen gemacht. Im Grunde genommen würde das mancher Pharisäer doch auch sagen können. Und die Umkehr zur Buße fordern die doch auch, wenn sie das auch vielleicht ein bisschen anders sehen. Und das Reich Gottes stellen sie sich auch nicht als ein politisches Gebilde vor. Vielleicht könnte Jesus das Gespräch mit den Pharisäern weiter bringen?"

Offenbar wollte mir Chuza Jesus Argumente gegen Judas zuspielen, die ich ihm überbringen sollte. Nach den Erfahrungen der Missionsreise schienen die Gedanken meines Mannes auch mir ein Weg zu sein. Warum sollten nicht die Armen des Volkes und die Pharisäer gemeinsam die Erneuerung des Volkes erreichen können. Allerdings mit wem sollte Jesus denn reden? Die Pharisäer sind keine Leute, die in Versammlungen gehen. Noch dazu bei einem Rabbi, dessen Legitimation sehr fraglich ist. Außerdem wissen sie nur zu gut, dass sie die eigentlich Frommen im Land sind, die Sitten und Gebräuche hochhalten. Nicht nur am Sabbat in der Synagoge. Einer Einladung zum Gespräch würden sie wohl kaum folgen. Wen hätte man einladen sollen? Es gibt bei ihnen keine Organisation. Keine Leitung. Das war alles schon ziemlich schwierig.

Dennoch fragte ich Jesus nach seinem Verhältnis zu den Pharisäern. Dabei erzählte ich ihm, was ich mit meinem Mann besprochen hatte, und dass der auch vor einem Zug nach Jerusalem warnte. Ich legte ihm dagegen die Verkündigung von Gottes neuer Welt an die Pharisäer ans Herz, die ihm doch nahe stünden.

"Ja, siehst du Johanna", entgegnete er mir, "ich halte die Pharisäer auch für die Frommen im Lande. Nur ist der Glaube der meisten von ihnen sehr eng und formalistisch. Auf jede Frage eines Menschen haben sie sofort die richtige Antwort. Sie beschäftigen sich viel mit den Schriften. Ohne sie wüssten wir vielleicht nichts mehr von Jahwe, dem Gott, der uns liebt und immer für uns da ist. Sie sind ängstlich besorgt um diesen Glauben, und darum fällt es ihnen so schwer, eine andere Sichtweise zu finden. Z.B. aus dem Glauben an den Vater im Himmel das Bruder- und Schwesterverhältnis aller Menschen abzuleiten. Wie sollen sie da verstehen, dass das Reich Gottes nicht irgendwann einmal kommt, sondern schon da ist. Um es finden zu können, müssten sie erst einmal vom hohen Ross ihrer Selbstsicherheit herunter und ihre eigenen Rituale und Gesetze in Frage stellen. Gottes Neue Welt ist bestimmt niemals Ergebnis religiöser Leistungen, seien die noch so bewundernswürdig. Sie wird vielmehr von Gott selbst heraufgeführt mit denen, die fühlen, dass sie Gott gegenüber ein Nichts sind. Wir werden bei den Pharisäern leider kaum Erfolg haben, es sei denn bei einzelnen. Sie als große Gruppe für zu werben, scheint mir vorläufig unmöglich. Das ist auch für mich sehr schmerzlich, zumal es mich immer wieder zwingt, mich an ihnen zu reiben. Besonders an denen, die ihre religiöse Leistung öffentlich zur Schau stellen."

So sehr ich mich auch bemühte, weitere Argumente gegen die Idee der Jerusalemreise ins Spiel zu bringen, weil ich Angst um Jesus hatte, fiel mir nichts mehr ein, was ich hätte sagen können. Auch die Qumramgemeinde und ihre Jünger im Lande kamen als Zielgruppe für die gute Botschaft kaum in Frage. Zu sehr schienen sie festgelegt auf einen starken Messias, der mit Macht das Gottesreich durchsetzen würde. So blieben nur die Armen. Auch schon deshalb, weil Jesus sie besonders liebte und sich daher auch so ausdrücken konnte, dass sie ihn verstanden. Einfach, bildhaft, ohne Pathos. Aber eine Missionsaktion wie die, welche wir gerade so erfolgreich durchgeführt hatten, wurde nicht wiederholt. Es kam nicht dazu. Erst viel später begriff ich, dass Jesus mit seinem "Ganz bestimmt wird dieser Weg weiter gegangen" etwas Prophetisches ausgesprochen hatte. Wir erlebten ja, wie sein Wort Wirklichkeit wurde, als die Jünger nach dem großen Pfingstereignis in alle Welt zogen, um die Gute Botschaft zu verkünden.

8

Die Tage gingen weiter, es wurde Frühjahr. In den jüdischen Dörfern und Städten bereitete man sich in vielen Häusern auf die Pilgerfahrt nach Jerusalem vor. Wir brauchten kaum Vorbereitungen. Mein Mann war ohnehin schon mit Herodes nach Jerusalem unterwegs. So war ich mit meinen Sorgen und Ängsten um das Schicksal Jesu und den Bestand des Gottesreiches allein. Als Jesus meinen Kummer bemerkte, fragte er mich, und ich erzählte ihm meine Sorgen. Er sah mich lange an:

"Glaubst du, dass Gott unser Vater ist, der uns liebt?"

"Ja!" sagte ich.

"Dann kann es doch für dich nicht so schwer sein, darauf zu vertrauen, dass unser Vater seine Neue Welt, die er selbst heraufgeführt hat und die wir jeden Tag unter uns erleben, nicht wieder verkommen lassen wird. Selbst wenn ich diese Reise nach Jerusalem nicht überlebe, wird das Reich Gottes in dieser Welt nicht mit mir sterben. Gott wird einen Rest Israels retten. So haben schon die Propheten gesprochen. Überlassen wir also ihm die Sorge um sein Reich und tun wir selbst das, was Recht ist!"

Auch im Jüngerkreis blieben die Gespräche gedämpft. Nur Judas war weiterhin optimistisch. Ich glaube, er fühlte sich seiner großen Stunde entgegengehen. Mehr und mehr übernahm er Planung und Organisation der Reise nach Jerusalem.

Soweit man von Planung sprechen konnte, denn mit Jesus gab es immer wieder Aufenthalte, weil Menschen kamen, die etwas von ihm wollten. Meistens waren es Kranke, die seinen Trost und Heilung suchten. Manchmal aber trafen wir auch Bauern oder Handwerker, die etwas wissen wollten über den Messias. Ob er nicht endlich käme, ob er der Sohn Davids sei, wo er denn herkäme und vieles andere mehr. Dann nahm Jesus sich Zeit. Diese Leute waren ihm wichtiger als die gelehrten Professoren in Jerusalem.

Unter Judas' Leitung ging unser Weg natürlich nicht durch Samaria, sondern wir blieben am linken Jordanufer. Schließlich kam der Anstieg auf der Straße von Jericho her, und dann sahen wir Jerusalem vor uns. Bei diesem Anblick erfasste uns alle eine Hochstimmung, die jeder versteht, der diese herrliche Stadt einmal so in der strahlenden Sonne gesehen hat. Nur über Jesus senkte sich eine düstere Stimmung. Er war den Tränen nahe und sagte nur eben so laut, dass wir es verstehen konnten:

"Jerusalem, Jerusalem, wie wird es dir ergehen? Du verlässt dich auf deine Mauern, deinen Reichtum, deinen Tempel, deine Thora, deine Weisheit, deine alten Propheten. Und doch wird das alles dich nicht retten. Die Ungerechtigkeit und der Stolz in deinen Mauern wird dir zum Verderben. Kein Stein von dir wird auf dem anderen bleiben!"

Wir waren alle ziemlich erschrocken über diesen Ausbruch. Dennoch wollte sich niemand die Hochstimmung nehmen lassen. Zu sehr waren wir begeistert von dem Anblick dieser königlichen Stadt, die vor uns lag. Und das, obwohl wir alle unsere Sorgen um das Schicksal Jesu hatten und damit verknüpft auch um unser eigenes.

An diesem Abend blieben wir außerhalb der Stadt und übernachteten im Freien. Um uns herum lagerten Scharen von Pilgern. Sie kamen hauptsächlich, wie wir, aus Galiläa. In diesem Rahmen wurde das Abendessen wieder einmal zu einem Fest und zu einem Erlebnis für alle, die zugleich mit uns aßen und tranken, sangen und tanzten. Vergessen waren alle Ängste und Sorgen.

Für kurze Stunden!

Als sich die Nacht vollends über uns gesenkt hatte, und der fast volle Mond schon ziemlich hoch am Himmel stand, rückten die Jünger enger an Jesus heran, und Judas entwickelte den Plan für den kommenden Tag. Er hatte fleißig unter den Galiläern geworben und war ganz sicher, dass viele uns begleiten würden, wenn wir in die Stadt hineinzögen. Nach Judas' Vorstellungen sollte es eine mächtige, aber friedliche Demonstration werden. Er versprach sich von ihr die Weckung des Interesses für Jesus bei den Mitgliedern des Hohen Rates und beim Hohen Priester.

Wir waren alle bereit, Judas zuzustimmen und das Unternehmen zu unterstützen. Aber außer Judas selbst war niemand ohne Bedenken. Jesus bereitete uns auf seine Weise vor. Heute weiß ich, dass er nicht nur an den morgigen Tag dachte, sondern auch an eine weitere Zukunft ohne seine sichtbare Gegenwart.

"Ich muss euch heute noch etwas sagen," begann er in seinem normalen Sprechton. Darum rückten wir nochmals enger zusammen, um ihn besser verstehen zu können. Wir saßen mit ihm in einer leichten Kuhle, fast wie in einem Amphitheater. Es war noch warm. Der Mond stand hell über uns. Die Stimmen der vielen Menschen waren schon schläfriger geworden und drangen nur gedämpft bis zu uns herüber.

"Bevor wir morgen nach Jerusalem hineinkommen, möchte ich euch noch einiges mit auf den Weg geben. Es könnte ja sehr leicht sein, dass der Hohe Rat gegen mich vorgeht und wir voneinander getrennt werden. Bitte, werdet nicht Irre an mir, was auch geschieht. Bleibt bei eurer ständigen Bemühung um Gottes Reich. In unserer Gemeinschaft habt ihr das ja schon sichtbar erlebt. Simon, für dich habe ich gebetet, dass dein Glaube nicht wankt. Stärke du deine Brüder und Schwestern, damit sie nicht irre werden in ihrem Streben. Ihr anderen hört also auf ihn!"

Natürlich waren diese Worte an diesem wundervollen Abend alles andere als beruhigend. Jeder fragte sich, was er meine, was er wisse, und ob es nicht doch ratsam sei, kein besonderes Aufsehen zu erregen, wenn wir in die Stadt einzögen.

Judas wollte beruhigen und sprach von dem bevorstehenden Sieg der "guten Sache". Alle Welt sollte erfahren, dass das Reich Gottes für alle angebrochen sei. Aber er beruhigte nicht! Vielmehr erinnerte er an einen Politiker, der durch Versprechungen Optimismus verbreiten will.

Simon schien es nicht sehr behaglich in seiner Haut. Er machte den Eindruck eines Mannes, der nicht recht weiß, ob er sich vor dem Vertrauen, das Jesus in ihn setzte, fürchtet, oder ob er stolz darauf ist.

Jesus wartete geduldig, bis sich die Unruhe gelegt hatte. Aber er gab keine weiteren Erklärungen ab, sondern kam auf Gleichnisse zu sprechen, die er früher schon erzählt hatte:

"Erinnert ihr euch noch, wie ich euch erzählt habe von dem Sämann, der Weizen aussät. Ein Teil der Körner fällt auf den Weg und wird zertreten, ein Teil fällt zwischen die Steine und verdurstet, ein Teil fällt unter Disteln und Dornen und wird nach dem Auflaufen erstickt. Nur ein letzter Teil fällt auf gutes Erdreich. Es wird wachsen und Frucht bringen. Seht, wenn ihr den Menschen die Frohe Botschaft von Gottes Welt verkündet als eine wichtige, Leben spendende Nachricht, die alle angeht, so werdet ihr erleben, dass viele euch zuhören. Manche aber werden euch gar nicht verstehen, weil ihre Gedanken ganz festgelegt sind. Vielleicht durch Schwierigkeiten im Beruf oder in der Familie, oder auch durch Interessen wie Sport, Politik oder Kunst, vielleicht sogar durch Studien der Heiligen Schriften. Solche Leute sind einfach nicht aufnahmefähig für eure Botschaft, so wie der Weg die Körner nicht aufnehmen kann.

Dann hören euch Leute, die finden alles schön, was ihr erzählt, aber sie haben nicht den Mut zu glauben und ihr Leben zu ändern, sich aus den Sachzwängen des Lebens zu befreien. Sie gleichen dem steinigen Grund, der die Saat verdursten lässt.

Nun gibt es wieder andere Leute, die hören euch zu. Sie verstehen euch auch und nehmen sich vor, eine Zelle Gottes zu sein. Sie leben ein paar Tage bei euch und kehren froh und erfüllt von eurer guten Botschaft zurück. Dort aber treffen sie auf ihre heimatliche Gemeinde, die genauso lebt wie immer schon und die auch so weiterleben will. Keine Witwe wird getröstet Keine Ungerechtigkeit wird verhindert. Nicht einmal in der eigenen Familie ist das anders. Ihre Worte und Bemühungen ernten ein böses Lächeln. Sie fürchten, nicht die Kraft zu haben, allein in einer solchen Umgebung im Sinne des Vaters zu leben, und geben auf. Manche kapitulieren auch vor Drohungen oder gar tatsächlichen Gewalttaten.

Nur ein kleiner Teil eurer Zuhörer wird verstehen und alles tun, um das Gehörte in ihre Wirklichkeit umzusetzen. Ihr dürft aber nicht denken, dass diese euch schon richtig verstanden haben. Es bedarf langer Zeit, bis gutwillige und aufmerksame Menschen eure Botschaft wirklich in sich aufgenommen haben und danach leben. Das wird euch noch viel zu schaffen machen.

Viel Geduld werdet ihr brauchen, denn ihr werdet eure Saat nicht sofort aufgehen sehen. Der Bauer muss ja auch viele Tage warten, bis auf seinem Feld etwas zu sehen ist Oft werdet ihr einen Erfolg eurer Predigt dort sehen, wo ihr ihn nicht erwartet habt. Bleibt also geduldig!

Geduld braucht ihr auch und ganz besonders, wenn eure Saat aufschießt und groß wird. Dann werdet ihr auch U n-kraut dazwischen wachsen sehen: Leute, die eure Botschaft oder eure Gemeinschaft nutzen wollen für ihre privaten oder politischen oder wirtschaftlichen Interessen. Zu Anfang kann man das oft noch gar nicht richtig unterscheiden. Urteilt deshalb nicht vorschnell, sondern wartet lieber geduldig bis zur Reife. An den Früchten werdet ihr dann das Gute vom Schlechten unterscheiden können."

Das war eine ziemlich lange Rede, die wir in unserem Kreise so gar nicht gewohnt waren. Zunächst schwieg alles. Erst nach und nach meldeten sich einige. Von denen waren die meisten beunruhigt über das Schicksal der Saat auf dem Weg, zwischen den Steinen und Dornen. Wir hatten ja alle noch keine Erfahrungen mit dem Unkraut.

Jesus antwortet den Beunruhigten: "Nein, es muss nicht so sein, dass jemand, der die Botschaft nicht verstehen kann, deshalb endgültig verloren ist. Der Vater ist die Geduld selbst. Er ruft die Menschen durch seine Boten oder durch Ereignisse immer wieder. Auch ihr dürft nicht verzagen, wenn jemand eure Botschaft nicht gleich annimmt. Wartet nur und bleibt wachsam! Der Vater kommt manchmal wie ein Dieb in der Nacht und öffnet dem Tauben die Ohren und dem Blinden die Augen."

Nachdenklich saßen wir noch einige Zeit zusammen.

Ich dachte an unsere Erlebnisse auf der Missionsreise und an Menschen, die wir dabei kennengelernt hatten. Maria ging es ähnlich. Wir tauschten noch einige Zeitunsere Gedanken aus. Wird unsere Saat aufgehen? Ob wir das erfahren? Ob die Leute sich noch erinnern? Zuletzt beteten wir beide zusammen, wie uns Jesus gelehrt hatte: Dein Reich komme! Dein Wille geschehe! Dann schliefen wir ein, nachdem auch die anderen immer stiller geworden waren.

9

Am anderen Morgen sahen wir Judas schon voll aktiv. Er lief zwischen den lagernden Familien umher und rief jede einzeln auf, an seiner Demonstration teilzunehmen.<7p>

Ich weiß nicht recht, was Jesus bewogen hat, sich in diese als Hauptperson einbeziehen zu lassen. Jedenfalls hatte Judas es fertiggebracht, ihm eine plausible Begründung dafür zu geben. Er hoffte wohl, Jesus auf diese Weise ein größeres Gewicht zu geben, die Aufmerksamkeit des Hohen Rates zu erregen und ihm dadurch Gehör zu verschaffen. Das lag ja auch nicht außerhalb von dessen Zielen.

Wahrscheinlich aber hat Judas stattdessen etwas ganz anderes erreicht. Bei den meisten unserer religiösen Führer bestand schon eine unbestimmte Furcht vor religiöser Erneuerung, die ihrer Meinung nach nur Abfall vom Glauben der Väter und den Verfall aller Sitten bedeuten konnte. Die Tempelpriester fürchteten wohl auch um den Rückgang der Wallfahrten und der Opfer und damit ihrer Einkünfte. Solche Befürchtungen arten leicht in richtige Feindschaft aus. Damit erkläre ich mir wenigstens zum Teil die Handlungsweise unserer religiösen Führer und ihrer Gefolgsleute, ja sogar den Stimmungsumschwung eines Teiles der Bevölkerung.

Doch zunächst klappte alles. Eine große Menge Galiläer und Pilger aus allen Weltgegenden zog mit Jesus, der sogar auf einem Esel ritt, zum Stadttor. Unterwegs brachen sie Zweige von den Bäumen und wedelten damit als Ausdruck ihrer Freude und Zuversicht. Immer wieder kam es zu Hochrufen auf den 'Sohn Davids'. Jesus ließ es geschehen.

Am Tor gab es einen Stau. Jesus aber kam fast als erster hindurch. In der Stadt zog sich unser Zug wegen der engen Straßen merklich in die Länge, zumal sich noch weitere Sympathisanten anschlossen. Sie breiteten sogar Kleider vor Jesus aus, so dass er manchmal wie auf einem Teppich ritt. Erst am Tempel kam der Zug zum Stehen. Jesus stieg ab und ging zu Fuß weiter.

Wie üblich mussten wir uns durch die Stände der Geldwechsler und der Verkäufer von Opfertieren hindurchwinden. Das Geschrei unserer Demonstranten mischte sich mit den Anpreisungen der Geschäftsleute.

Das alles schien Jesus weder zu stören noch zu wundern. Erst als er sah, dass die Verkaufsstände sogar in die Tempelhalle eingedrungen waren, wurde er böse.

Plötzlich hatte er ein paar Stricke in der Hand, mit denen man sonst Kälber oder Schafe festbindet, und prügelte damit auf die Händler ein. Gleichzeitig stieß er die Tische um, so dass auch eine Menge Geld auf die Erde fiel. Den nachdrängenden Galiläern war das ein großartiges Ereignis. Im Handumdrehen hatten sie die Halle geräumt, ehe noch die Wache eingreifen konnte.

Jubelnde und schimpfende Menschen, blökende Schafe und Lämmer, flatternde Tauben, klirrende Geldmünzen waren das Ergebnis dieser Entladung. Ich war völlig durcheinander. War das noch Jesus, den ich kannte? Der aber gab sofort eine Erklärung ab:

"Mein Haus ist ein Bethaus, steht geschrieben, ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht!"

Alles war also im Rahmen der Gesetze geblieben. Erst jetzt, da ich dieses erzähle, kommt mir eine Erklärung: Jesus war entschlossen, keine Gewalt und keine politischen Mittel anzuwenden, um die Menschen zu Gottes Welt zu bekehren. Aber vielleicht wollte er zeigen, dass er in der Lage sei, auch ohne Waffen eine Anhängerschaft hinter sich zu bringen, die von den Regierenden nicht einfach übersehen werden konnte. Vor dieser Möglichkeit hebt sich jedenfalls die kampflose Hinnahme aller Ungerechtigkeiten und Folter in den nächsten Tagen eindrucksvoll ab.

Mein Mann kommentierte die Ereignisse so:

"Jesus ist doch politisch nicht so einfältig, wie ich dachte. Er hat seinen Hebel genau dort angesetzt, wo er seine Gegner überraschen konnte. Die Tempelpriester hatten die Unsitte seit langem geduldet und wahrscheinlich ihren Vorteil daraus gezogen. Jesus konnte, ohne zu fragen, mit der Unterstützung der Essener, der Galiläer, der Pharisäer und vieler anderer rechnen. Es hat ja auch niemand außer den Händlern protestiert. Der Hohe Priester und sein sadduzäischer Klüngel wagten bei der Konstellation keine Maßnahmen gegen Jesus, zumal er niemandem Unrecht getan, sondern nur Jahwes Recht wiederhergestellt hat. Wirklich meisterhaft! Übrigens habe ich heute Jesus zum ersten Mal gesehen. Ich muss sagen, ich finde ihn erheblich beeindruckender, als ich das nur auf Grund deiner Erzählungen gedacht hatte."

"Wo hast du ihn gesehen?" fragte ich sofort, "und was hat dich so beeindruckt?"

"Na, die Tempelpriester waren über seine Demonstration heute Morgen, von der sie natürlich schnellstens bis ins Kleinste unterrichtet waren, ziemlich beunruhigt Sie suchten Hilfe bei Herodes. Der schickte ein paar seiner Beamten, darunter mich. Die schnell zusammengeraffte Delegation, die natürlich keinen offiziellen Charakter haben sollte, drang zwar mühsam, aber dann schließlich doch zu Jesus durch und stellte ihm die Frage, ob ein rechter Jude dem Kaiser Tiberius Steuern zahlen dürfe. Das war natürlich eine üble Fangfrage."

"Und warum?" wollte ich wissen.

"Na, hör mal! Wenn Jesus darauf 'Ja' geantwortet hätte, wäre er beim Volke unten durch gewesen. Antwortete er aber mit 'Nein', konnte man seine sofortige Verhaftung und Verurteilung zum Kreuz veranlassen. Das Kreuz hätte ihn in gleicher Weise unmöglich gemacht."

"Und wie ging die Sache aus?" fragte ich gespannt.

Chuza lachte. "Das war einfach großartig! Er bat den Wortführer, ihm eine Steuermünze zu zeigen. Der tat das auch ahnungslos. Jesus betrachtete sie genau, ohne sie anzurühren. Dann fragte er: 'Da ist doch ein Bild drauf? Wessen Bild ist das?' Der Beamte sagte sofort: 'Das weiß man doch! Es ist das Bild des Kaisers Tiberius.' Jesus spielte sofort seinen Trumpf aus: Dann gib ganz schnell dem Kaiser das zurück, was ihm gehört. Du aber gib Gott die Ehre und halte sein Gebot, das verbietet, ein Bild von einem Menschen herzustellen oder auch nur zu besitzen!' Wir Herodianer gönnten den Tempelpriestern diese Niederlage. Aber, Johanna, wenn du kannst, so warne Jesus. Der Hohe Priester und seine Gefolgsleute werden alles versuchen, ihn so zu vernichten, dass kein Hund mehr ein Stückchen Brot von ihm nimmt!"

Zunächst jedoch geschah nichts weiter. Weder die Demonstration beim Einzug in die Stadt noch der Zusammenstoß mit den Händlern im Tempel hatten irgendwelche sichtbaren Folgen. Der Judasplan ging nicht auf. Der Hohe Rat schien kein Interesse an Jesus zu haben.

Eine Einladung zu einer Aussprache im Hohen Rat kam nicht. Jesus predigte jeden Tag im Tempel. Doch ersetzte sich jeden Abend nach Bethanien ab.

Ich selbst wohnte bei meinem Mann im Herodespalast. Mit mir auch die anderen Frauen, die Jesus nach Jerusalem begleitet hatten. Unter ihnen natürlich Maria aus Magdala. Auch die Mutter Jesu, die sich endlich von ihrer Familie hatte lösen können. Die hatte ihr anfänglich ziemliche Schwierigkeiten gemacht. Jetzt, als das Leben ihres Sohnes in Gefahr war, war sie bei ihm, als ob sie die Katastrophe, die vor uns lag, geahnt hätte. Noch zwei Frauen wohnten bei mir: Susanna, die Jesus schon längere Zeit begleitete, und die Mutter des Jakobus, den ich zu den sichersten Jüngern zähle. Sie hieß auch Maria.

Am Donnerstag vor dem Paschafest blieb Jesus in der Stadt. Offenbar bereitete sich wieder etwas vor, bei dem Judas auch die Hand im Spiel hatte. Ich kann das nur vermuten und mir sein Handeln aus den Ereignissen rekonstruieren.

Es könnte sein, dass Judas zu einem letzten Mittel gegriffen hat, um Jesus mit dem Hohen Rat zusammenzubringen: Vielleicht schlug er seinem Verbindungsmann, möglicherweise war das der ehemalige Hohe Priester Annas, vor, ihm Jesus bei Nacht vorzustellen, wenn diese Zusammenkunft kein Aufsehen erregen konnte. Jesus wird einverstanden gewesen sein, aber natürlich unter der Bedingung, dass es eine offene und faire Aussprache sein sollte.

Vielleicht hat Judas auch so verhandelt und Jesus so berichtet. Annas aber und sein Schwiegersohn Kaiphas, der derzeitige Hohe Priester, erkannten die Chance, Jesus aus dem Weg zu räumen, indem sie ihn unter der Anklage antirömischer Umtriebe an den römischen Statthalter Pilatus auslieferten, der gerade in Jerusalem war. Auf diese Weise konnte man das 'Problem Jesus' durch den heidnischen Römer politisch lösen lassen.

Um das richtig zu inszenieren, musste Jesus von einem Trupp Soldaten aufgestöbert und festgenommen werden. Auf diese Weise bewies der Hohe Rat seine Loyalität den Römern und Pilatus gegenüber.

Spätestens bei der Bildung des Verhaftungskommandos hätte Judas spüren müssen, was gespielt werden sollte. Offenbar aber war er so besessen von seinem Plan, dass er keinen Verdacht schöpfte, sondern das Spiel mitmachte. Erst als es klar war, was er angerichtet hatte, versuchte er das Rad zurückzudrehen. Natürlich ohne Erfolg.

Der Versuch, Gottes Neuer Welt auf dem Wege über die Führer des Volkes zum Durchbruch zu verhelfen, ist misslungen. Jesus scheint das von vornherein richtig eingeschätzt und die Folgen gefürchtet zu haben. Er wollte und konnte sich diesem Versuch aber nicht verweigern, weil immerhin die Möglichkeit eines Erfolges bestand. Er blieb seiner Sendung treu, dem ganzen Volk Israel die frohe Botschaft Gottes zu verkünden. Diese Treue kostete ihn das Leben.

Jesus blieb also an diesem Abend in Jerusalem, trennte sich aber am Abend von den Leuten, die seiner Predigt im Tempel wie üblich zugehört hatten, und zog sich mit den zwölf getreuesten Jüngern, die später als erste Apostel genannt wurden, allein in einen Festsaal im Essenerviertel zurück. Dort hatten Johannes und Petrus für sie alle das Paschamahl vorbereitet.

Wir Frauen waren nicht dabei. Ich nehme an, dass Jesus fürchtete, wir könnten bei den Konflikten, die sich möglicherweise in der Nacht entwickeln würden, Schaden nehmen. Wie recht er hatte!

10

So verbrachten wir Frauen den Abend alle gemeinsam in meiner Wohnung. Ich weiß aber nicht mehr, was wir miteinander getan oder gesprochen haben. Wir waren jedenfalls alle in gespannter Stimmung, weil wir Angst um Jesus und die andern hatten. Niemand mochte etwas essen, obwohl wir doch den ganzen Tag auf den Beinen gewesen waren. Niemand mochte etwas sagen, obwohl die Ereignisse uns sonst sicherlich viel Stoff zu Gesprächen gegeben hätten. Zwischen Furcht und Hoffnung hin und her geworfen, hing jede für sich ihren Gedanken nach, was wohl in dieser Nacht geschehen könnte. Für uns alle war die Trennung ein Zeichen, dass vielleicht schon in dieser Nacht eine schwere Entscheidung fallen sollte.<8p>

Chuza war noch bei Herodes. Der König feierte in Jerusalem das Paschafest. Eine für sein Leben völlig unverbindliche rituelle Handlung, an der möglichst viele Gäste als Zuschauer beteiligt wurden, damit es ja richtig unter die Leute kam, wie ernst der König seine religiösen Pflichten nahm. Chuza regte das jedes Jahrwieder auf.

Die Nacht hatte sich über Jerusalem gesenkt. Aber wir hatten keine Augen für den herrlichen Blick, der sich aus meinem Fenster im Schein des vollen Mondes über die Stadt bot. Wir waren stumm vor Angst. Die hinderte mich aber nicht einzuschlafen. Ich glaube, den andern ist es ebenso gegangen.

Wir müssen immerhin ein paar Stunden geschlafen haben, bis wir plötzlich hochgeschreckt wurden. Chuza war in das Zimmer gestürzt. Er erschrak, als er nicht nur mich, sondern auch die andern Frauen wahrnahm. Wegen der matten Mondbeleuchtung hatte er sie zunächst nicht erkennen können. Seine Schreckensnachricht aber hielt er nicht zurück:

"Jesus ist verhaftet! In einem Garten am Ölberg. Er wurde in das Haus des Annas gebracht":

Er verschwand sofort wieder, nachdem er mir noch hastig zugeflüstert hatte, er werde auf seinem Beobachtungsposten bleiben. Es dauerte gar nicht lange, da kam er schon zurück mit der Nachricht, Jesus sei jetzt im Palast des Hohen Priesters vor dem Hohen Rat. Ich hielt ihn fest und fragte:

"Was kann das bedeuten? Erst verhaftet und nun vor dem Hohen Rat?"

"Das weiß ich noch nicht. Ich habe nur eine kleine Hoffnung, dass Judas vielleicht doch Erfolg hatte. Dann fände jetzt das Gespräch mit den geistlichen Führern des Volkes statt. Dazu passt aber die Verhaftung nicht. Ich will versuchen, es herauszubekommen."

"Wo sind denn die Männer, die bei ihm waren?"

"Die Verhaftung fand im Garten Gethsemane am Ölberg statt. Die Jünger, die bei ihm waren, sind nicht mit verhaftet worden."

"Was könnte das bedeuten?" fragte ich.

"Gerade das lässt mich zweifeln, dass jetzt wirklich ein echtes Gespräch geführt wird. Für ein Tribunal braucht man nur Ankläger und Denunzianten. Keinesfalls Zeugen. Die Jünger werden schon Lunte gerochen haben, als die Soldaten zur Verhaftung erschienen, da werden sie in der Stadt untergetaucht oder nach Bethanien gegangen sein."

Die andern hatten die hastig vorgebrachten Vermutungen natürlich mitgehört und waren entsprechend erschreckt. Nur Maria, die Mutter des Jakobus, atmete etwas auf, weil ihr Sohn nicht unmittelbar in Gefahr schien. Aber auch sie hatte, wie wir alle, Angst um Jesus.

Der Mond hatte nun langsam seine Bahn vollendet und gab unserem Schlafraum nur noch wenig Licht. Dafür begann sich im Osten der Tag zu melden. Aber das Morgenrot war kein Trost für uns. In unseren Herzen blieb es dunkel. Ja wir wünschten, die Sonne möge an diesem Tag nicht aufgehen.

Aber es wurde Tag. Kaum war die Sonne über dem Horizont, da erschien Chuza und meldete, Jesus werde an Pilatus ausgeliefert. In der Anklage würden seine Feinde versuchen, ihn als Rädelsführer hinzustellen, der nach der Königskrone strebe, und als Wortführer für Steuerverweigerer. Chuza war sehr besorgt. Er meinte:

"Wenn Kaiphas die Sache nicht in eigener Zuständigkeit erledigt, dann kann das nur den Grund haben, dass er Jesus und seine ganze Bewegung an der Wurzel treffen will. Der römische Statthalter Pilatus kann bei der Anklage nur auf Kreuzigung erkennen."

Ich kann nicht wiedergeben, wie dieses Wort 'Kreuzigung' uns traf. Wir wussten alle, welch fürchterlicher Tod Jesus drohte. Aber Chuza sah noch weiter. Ohne Rücksicht auf unsere Gefühle, die sich schon in Schluchzen, Weinen, Schreien Luft machten und damit den ganzen Raum füllten, erklärte er:

"Wenn Jesus am Kreuze stirbt, gilt für ihn: 'Verflucht sei, wer am Kreuze hängt'. Dann bricht seine Glaubwürdigkeit auch bei seinen Jüngern zusammen, und seine Botschaft ist keinen Pfifferling mehr wert. Kaiphas ist ein Satan!"

Wir waren wie vor den Kopf geschlagen und nicht fähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Chuza war da kühler. Nach einiger Überlegung sagte er:

"Johanna, du kennst doch die Frau des Pilatus. Wie heißt sie doch gleich? Willst du nicht versuchen, über sie auf diesen Kerl einzuwirken? Der ist ziemlich abergläubig. Vielleicht kann man ihn unsicher machen. Ich gebe dem zwar keine große Chance, aber versuchen solltest du es doch."

Er strich mir über den Kopf, wie einem Kind, dem man Mut machen will, und setzte hinzu:

"Ich werde deinen Besuch gleich anmelden. Zieh dein bestes Kleid an! Mach dich hübsch! Die Sänfte lasse ich dir vor die Tür stellen."

Die Augen der Frauen waren alle auf mich gerichtet. Keine sagte etwas. Aber ihre Augen sprachen umso deutlicher: "Bitte, versuch es!"

Hastig stürzte ich in mein Boudoir, puderte mein Gesicht, legte etwas Rouge auf. Dann fiel mir ein, dass ich ja erst mein griechisches Kleid anziehen musste. Endlich war auch meine Frisur in Ordnung, wie Maria bestätigte, und ich konnte die Sänfte besteigen.

Ich kam noch rechtzeitig. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch. Pilatus schien seine Geschäfte eben erst begonnen zu haben. Der Austausch der Förmlichkeiten war angesichts der tödlichen Gefahr, in der ich Jesus wusste, eine seelische Folter, die mich beinahe um meinen Verstand brachte. Endlich, endlich konnte ich zur Sache kommen. Aber wie sollte ich in wenigen Worten erzählen, was Jesus für ein Mensch sei, dass seine Botschaft von Gottes Neuer Welt keine Gefahr für die Römer sein wollte, das das Reich Gottes kein Territorium, keine Krone, kein Geld beanspruche. Sie lächelte über meinen Eifer. Aber ihr gutes Herz, auf das ich vertraute, kam sofort zum Vorschein:

"Weißt du, ich kenne mich in diesen jüdischen Fragen nicht so gut aus. Aber ich sehe, du bist in Not, weil dein Freund in Gefahr ist. Ich will versuchen, dir zu helfen."

Sie klatschte in die Hände, eine Dienerin erschien und nahm ihren Befehl entgegen:

"Geh zu Pilatus und sage zu ihm: Lass' dich nicht ein auf die Klage gegen diesen Mann Jesus. Verleumder sind es, die ihn vernichten wollen. Ich habe deswegen im Traum viel Angst ausgestanden. Es ist sicher, dass die Götter in dieser Sache gegen dich sind. Hast du das richtig verstanden?"

Als die Dienerin ihren Auftrag richtig wiederholt hatte und wieder weg war, fügte sie hinzu:

"Eigenartig. Ich habe tatsächlich in dieser Nacht ganz fürchterlich geträumt: Mein Mann sei nach Rom zitiert worden, weil er beim Kaiser wegen harter Amtsführung und wegen ungerechter Entscheidungen angezeigt worden sei. Jetzt weiß ich, was mein Traum zu bedeuten hat":

Mehr konnte ich gegenwärtig nicht erreichen. Ich dankte daher und beendete meinen Besuch nach schicklicher Zeit.

Als ich wieder zu Hause war, brauchte Ich keinen Bericht zu erstatten. Chuza hatte schon die Nachricht geschickt, Pilatus habe Jesus an Herodes überstellt, weil er ja Galiläer sei und daher Untertan des Königs.

Wir waren alle gern bereit, an einen Erfolg meiner Mission zur Frau des Pilatus zu glauben, und dass nun alles gut werden würde. Johannes' Schicksal musste sich ja nicht wiederholen.

Aber dieser kleine Hoffnungsschimmer verschwand bald wieder. Chuza kam und berichtete:

"Ja, ihr habt richtig gehört. Jesus war bei Herodes. Er war! Aber der König hat sich für die Sache und die Anklage gar nicht interessiert. Er fand es wunderbar, dass er den weltberühmten Mann einmal sehen konnte. Er hoffte wohl, Jesus würde ihm ein Zauberkunststück vorführen. Vor allem aber fühlte er sich von Pilatus geehrt, den er doch bisher nicht hatte leiden können. Aber alle seine Bemühungen, Jesus auch nur zum Reden zu bringen, quittierte der mit Schweigen. Nichteine Silbe hat er gesagt. Darum schickte Herodes ihn mit Dank und freundlichen Grüßen wieder zu Pilatus zurück. Dass diese Rücksendung den Tod für seinen Untertan bedeutet, kratzt doch einen Herodes nicht."

Nach dem Fehlschlag mit Herodes sah sich Pilatus immer stärkerem Druck seitens des Hohen Priesters und dessen mächtiger Anhängerschaft ausgesetzt. Kaiphas, das wurde immer deutlicher, wollte die Kreuzigung und nichts anderes, wie Chuza schon vermutet hatte. Pilatus versuchte noch zweimal, Jesus zu retten. Weder der Versuch, Jesus gegen einen gefürchteten Straßenräuber auszutauschen, noch es bei einer Geißelung bewenden zu lassen, erreichte die Zustimmung der Clique um Kaiphas, die handeln konnte, als sei sie allein. Kein Galiläer, kein Pharisäer, kein Essener, kein Zelot raffte sich zu einer Demonstration für Jesus auf. Wir Frauen hatten schon gar keine Möglichkeit der Einflussnahme. Uns blieben nur die Tränen, die Angst, dieser oder jener Hoffnungsstrohhalm und das Warten.

Am Ende blieb Pilatus nur sein politisches Kalkül: Wie kann mir Kaiphas schaden, wenn ich ihm seinen Willen nicht tue? Eine Regung wie Sinn für Gerechtigkeit oder gar Mitleid war bei ihm nicht zu erwarten.

Heute weiß ich, dass dieser Tiefpunkt in unserem Leben schon der Anfang einer Gemeinschaft zwischen uns Frau en gewesen ist, die immer noch lebt. Eine weibliche Version von Gottes Neuer Welt. Damals aber zitterten wir nur.

Dann kam die Gewissheit, dass alle Hoffnung Täuschung gewesen war. Johannes kam zu uns und berichtete von dem Urteilsspruch gegen Jesus, weil er 'König der Juden' sei. Diese Urteilsbegründung zeigt, mit welcher Kaltschnäuzigkeit sich Pilatus unter Opferung Jesu aus der Klemme zwischen dem Kaiser in Rom, dessen Vorwurf der Rechtsbeugung und Grausamkeit er fürchten musste, und Kaiphas hier herausgewunden hat.

Hastig machten wir uns fertig, Jesus auf dem Weg zu seiner Kreuzigung zu begleiten. Johannes führte die Mutter Jesu. Wir andern Frauen blieben zunächst mit den beiden zusammen.

11

Grausame Schauspiele finden immer ihre vielen Zuschauer. So mussten wir uns in den überfüllten Straßen mühsam durch die aufgeregten Menschen drängen. Mehr geschoben und gestoßen als gegangen näherten wir uns Golgatha, wo die Kreuzigung stattfinden sollte. Da standen wir auf einmal unerwartet Jesus gegenüber. Ich kann nicht beschreiben, wie er aussah. Blutverklebt, mit geschwollenem Gesicht, auf dem Kopf einen Kranz aus Dornzweigen. Die Geißelung hatte den Folterknechten offenbar nicht gereicht. Sie hatten noch einiges dazu getan, obwohl das ungesetzlich ist. Wenn es ums Quälen geht, tun die Gehilfen der Machthaber nur zu gerne mehr, als ihnen befohlen wurde. Die können sich dann die Hände in Unschuld waschen, weil sie natürlich nichts davon gewusst haben.

Todmüde stolperte Jesus vorwärts, immer wieder angetrieben von grausamen Henkern. Ich hatte Zweifel, ob er uns überhaupt erkennen konnte. Doch in seinen Augen blitzte für einen kleinen Moment Freude und Dankbarkeit. Selbst in dieser Situation noch. Dann wurde er weitergetrieben

.

Die weiteren Erinnerungen dieser Stunden sind ein unentwirrbarer Knäuel aus Angst, Trauer, Schreien, Blut, Gejohle, Gedränge, Dunkel und Hoffnungslosigkeit. Die Hammerschläge, mit denen Nägel in lebendiges Fleisch getrieben wurden, werden mich ein Leben lang verfolgen. Als bleibendes Merkmal einer unmenschlichen Welt.

Ich war von den anderen getrennt worden, hatte mich auf einen Stein gesetzt und war in tiefe Traurigkeit versunken, nachdem mich Wut und Verzweiflung verlassen hatten. Alles um mich war dunkel. Wie sollten wir weiterleben können, wenn Jesus tot war? Er hatte doch selbst gesagt, er sei der Weinstock und wir die Reben. Nun fehlte uns die Kraftquelle, die Verbindung mit dem Leben. -

Hatte Gott uns verlassen? Gott, den Jesus und wir unseren Vater genannt haften.

Hatte Chuza recht mit dem Zitat: 'Verflucht, wer am Kreuze hängt!'? Dort hinten bei den Kreuzen beendeten die Henker ihre Arbeit. Die Leichen sollten wohl nicht über das Paschafest hängen bleiben. In diesen Dingen sind unsere Priester sehr genau.

Ich sah, wie zwei oder drei Männer sich um Jesu Leiche bemühten. Seine Mutter mit Johannes und Maria aus Magdala waren auch dabei. Plötzlich rannte ich los: Frauen denken in solchen Fällen meist etwas Praktisches. Ich lief zum nächstbesten Krämer und kaufte Myrrhe und Aloe, so viel wie ich tragen konnte. Eben rechtzeitig langte ich wieder bei der 'Schädelstätte', wo sie ihn gekreuzigt haften, an. Die Männer trugen Jesus auf einer improvisierten Bahre zu einem Grabe in der Nähe. Das war noch ganz neu. Ich erkannte jetzt Nikodemus, der vor einiger Zeit einmal bei Nacht zu Jesus gekommen war, und Josef von Arimathäa. Beide waren Pharisäer, die sich in diesem Augenblick durch ihr Tun zu Jesus bekannten. Von den andern sah ich außer Johannes niemanden. Jesus im Grab wurde auf ein Leinentuch gelegt, das einer von den Männern fürsorglich mitgebracht hatte. Meine Kräuter legte ich rechts und links neben den Leib. Der zeigte die deutlichen Spuren von Faustschlägen, Geißelhieben, Nagelwunden an Händen und Füßen, wie vor allem die noch blutende Wunde von einem Lanzenstich in die rechte Brustseite. Dann wurde das Leinentuch vom Kopf her über ihn gebreitet.

Eine kurze Zeit blieben wir noch. Dann war es Zeit, weil der Abendstern schon bald den Sabbat ankündigen würde. Da mussten wir zuhause sein. Die Männer rollten den Stein vor. Dann gingen wir. Die Frauen wieder mit mir. Nur seine Mutter wurde von Johannes mitgenommen.

Jede von uns hing ihren Gedanken nach. Gefühl und Verstand sprachen von dem Ende einer Hoffnung. Es kam eine Nacht der totalen Leere. Selbst die Erinnerung scheint mir tot.

Aber auch nach dieser trostlosen Nacht dämmerte ein Morgen. Der Sabbat. Ich hatte gestern an nichts gedacht. Kein Essen war vorbereitet. Kein Herdfeuer brannte. Nicht einmal die Sabbatkerze verbreitete ihr bescheidenes Licht. Die anderen lächelten mich verständnisvoll an. Sie wussten, es würde heute nichts zu essen geben. Ihr Lächeln war Mitleid, Trauer und Sorge zugleich. Ohne ein Wort tröstete es mich. "Mach dir keine Sorge um uns. Wir werden an diesem Tag ohnehin nichts essen können. Uns ist wie dir eine Welt zusammengebrochen." Wir hingen unseren Gedanken nach, die alle an dem Stein endigten, der vor das Grab gerollt worden war. Gegen Mittag kam Chuza. Mit ihm Thomas, einer von den Zwölfen. Ich war zunächst irritiert. Chuza hatte mir noch nie einen Mann in meinem Gemach zugemutet. Er sah auch meine erstaunte Frage in meinen Augen und sagte schnell:

"Johanna, verzeih! Aber ich glaube, die Trauer um Jesus und die Sorge um Gottes Neue Welt macht uns wirklich zu Brüdern und Schwestern. Lassen wir also heute einmal korrektes Benehmen als weniger wichtig beiseite. Wir beide haben seit gestern Abend noch viele Stunden über Jesu Schicksal nachgedacht. Wir brauchen jetzt euren Rat."

Wir ließen uns also wieder auf unsere Sitzkissen nieder und warteten gespannt.

Thomas begann mit leiser Stimme: "Ihr seid wie ich lange mit Jesus zusammen gewesen. Wir wissen, dass er ein heiliger, ein reiner Mensch war. Er hat niemals nach Macht gestrebt. Sein Tod, das füge ich jetzt aus dem Erlebnis des letzten Abends hinzu, wurde von ihm als für uns erlitten aufgefasst. Seine Verurteilung erfolgte, weil er König der Juden gewesen sei oder es werden wollte. Wir wissen, dass das völlig ungerecht und aus der Luft gegriffen ist. Er wollte eine Welt, in der jeder Mensch als in gleicher Weise von Gott geliebt gesehen wird. In Gottes Neuer Welt sollte der den ersten Platz einnehmen, der der Diener aller ist. Das war der wahre Grund für seine Beseitigung durch die herrschende Clique. Hat Gott ihn nun auch verurteilt, da er am Holze gehangen hat, oder ist er der Gottesknecht, der leiden musste, wie er sich wohl selbst manchmal gesehen hat. Was meint ihr?"

Wieder war ich völlig irritiert. Ich war nicht in der Lage, überhaupt etwas zu sagen, geschweige denn auf Thomas' Frage zu antworten. Noch nie in meinem Leben hatte mich ein Mann außer Chuza in einer wichtigen Sache um meine Meinung gebeten. Diese Frage aber zielte auf unsere ganze zukünftige Existenz.

Den andern Frauen ging es nicht anders. Unser Schmerz um Jesus war das alles überwältigende Gefühl, das ein Bewusstsein der geistigen Katastrophe noch gar nicht hatte aufkommen lassen.

Maria Magdalena fasste sich als erste. Sie war dem Schreien, dem Blut und dem Dreck gestern am nächsten gewesen. Sie war auch jetzt Jesus am nächsten:

"Thomas und Chuza", sagte sie, "hört mich an! Jesus, unser Freund, den wir gestern dem Grab übergeben haben, hat zu seinen Lebzeiten immer wieder gesagt: 'Ich bin nicht gekommen, die Gesetze aufzuheben, ich werde sie vielmehr erfüllen.' Jesus ist dieser Ankündigung treu geblieben. Darum hat er gestern mit David gerufen: 'Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?' Er hat den Fluch des Holzes hingenommen. Aber er kannte auch Jesaja, der vom Gottesknecht gesungen hat, der geschlagen und zu Tode gemartert wird. Ich weiß nicht, wie sich dieser Widerspruch unserer Heiligen Schriften lösen wird. Aber ich bin sicher, dass der Prediger Salomo, ich weiß nicht, ob ihr dieses Büchlein kennt, in Bezug auf Jesus jedenfalls nicht recht hat, wenn er vom Tun und von der Anstrengung des Menschen als Sinnlosigkeit spricht, die mit dem Tode endgültig ihre Vergeblichkeit offenbart.

Jesus hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Er hat mich total anders denken gelehrt. Er hat mir Gottes Neue Welt gezeigt. Das wird niemals wieder rückgängig gemacht werden. Das ist keine Sinnlosigkeit. Das kann ich bezeugen, wenn ich auch nur eine Frau bin. Alles andere wird die Zeit uns lehren."

Wir andern hatten dem nichts hinzuzufügen. Etwas zaghaft nickten wir mit tränenleeren Augen.

Die beiden Männer schwiegen auch. Erst nach einer Weile sagte Thomas:

"Dank dir, Schwester Maria. Wir müssen warten, wie der Herr die Rätsel lösen wird. Jesus hat uns gelehrt, den Vater um alles zu bitten. Wir sollten das nichtvergessen. Und wir sollten zusammen bleiben, wie wir mit Jesus zusammen waren. Vielleicht wird uns eines Tages Klarheit werden."

Die beiden Männer gingen wieder. Wir Frauen verfielen erneut in unsere Wortlosigkeit. Wir waren ja auch völlig übermüdet. Zwischen Halbschlaf und Traum zog, wohl angeregt durch die Worte Marias, vor meinem Geist die Zeit vorbei, die wir mit Jesus erlebt hatten, erfüllt von der guten Botschaft, die uns sein Wort und sein Leben jeden Tag neu verkündet hatten .Ich versuchte zu ermessen, inwieweit sich mein Leben und Denken tatsächlich geändert hatten. Immer wieder aber glitten meine Gedanken zu dem toten Jesus, dessen Leib jetzt ganz allein im Grabe lag. Für mich war er unwandelbar der Eckstein meines Lebens. Aber sprechen wollte ich darüber jetzt nicht.

Die andern teilten, so glaube ich, meine Stimmung. Erst gegen Abend begannen praktische Gedanken wach zu werden. Als der Sabbat vorüber war, und das Leben auf den Straßen wieder seinen gewohnten Gang aufnahm, besannen sie sich auf ihre Pflichten als nächste Angehörige des Toten. Jesus war ja nur provisorisch bestattet worden. Das konnte und durfte nicht so bleiben. Sie warfen ihr Geld zusammen und begaben sich in die Stadt, um für die endgültige Bestattung Öle und Salben einzukaufen. Einen Wasserkrug steuerte ich bei. Im Übrigen sorgte ich in der Zwischenzeit für eine Mahlzeit. Dann schliefen wir ein paar Stunden. Noch im Dunkeln brachen die andern auf. Ich traute mich nicht mitzugehen, weil ich mich vor dem Anblick fürchtete, den ich mir schrecklich vorstellte. Immer hatte ich diesen blutverklebten Körper vor Augen, von Geißeln geschunden, von den Nägeln und der Lanze durchbohrt, durch Knüppelschläge verunstaltet, durch eine Dornenkrone verhöhnt und gemartert.

12

Ich wollte später nachkommen. So blieb ich allein in meiner kleinen Wohnung. Die Diener schickte ich weg. Ich weiß nicht, ob ich gebetet habe. Ich glaube nicht. Dafür gewannen Scham und Reue die Oberhand, weil ich die andern allein zum Grab hatte gehen lassen. Ehe ich aber den Entschluss fasste, ihnen doch noch zu folgen, ehe ich diesen Entschluss auch wirklich ausführte, drang in die Stille meines Zimmers und die Leere meiner Seele der Klang einer Melodie. <7p>

Ich schaute suchend aus dem Fenster und gewahrte einen Mann, der unter mir auf der Erde saß und auf einem Saiteninstrument eine Melodie zupfte, die mich ganz gefangen nahm. Dann sang er leise zu seiner Melodie einige Verse, die ich nicht richtig verstehen konnte. Ich vernahm nur "Weizenkorn", "sterben", "leben".

Ich konnte mich nicht rühren. Aber ich zitterte am ganzen Körper.

Weizenkorn - sterben - leben! Diese Worte hatte doch Jesus gebraucht, damals beim Tode des Johannes, des Täufers.

Wer war der fremde Sänger?

Warum sang er gerade dieses Lied?

Warum gerade unter meinem Fenster?

Ehe ich mich entschließen konnte hinunterzulaufen, verstummte sein Lied. Ich lauschte weiter, aber nichts war mehr zu hören.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir nur den nackten Stein, auf dem der Sänger gesessen haben mochte.

Aber etwas anderes sah ich nun: Die Gasse herauf-gerannt kam die schwarzverhüllte Gestalt einer Frau. Sie war ganz außer Atem, als sie unter mir an die Tür klopfte. Das konnte nur Maria sein.

Ich lief schnell hinunter, um ihr vor der Dienerschaft zu öffnen.

Es war wirklich Maria. Sie fiel mir in die Arme, riss sich sofort wieder los und stieß hervor:

"Jesus lebt! Er ist nicht mehr im Grab. Er lebt! Ich habe ihn gesehen. Er hat mit mir gesprochen!"

Mein erster Gedanke war: Sie ist verrückt! Der Schmerz hat ihr den Verstand genommen. Vorsichtig wollte ich sie die Treppe hinauf führen. Aber sie rannte allein vor mir her. Oben in meinem Zimmer warf sie sich auf ein Polster. Ich setzte mich neben sie, immer noch in der Meinung, sie hätte den Verstand verloren.

Dann aber erzählte sie mir, was sie erlebt hatte:

Die Frauen waren alle gemeinsam zum Grab gegangen. Unterwegs waren ihnen Bedenken gekommen, wie sie den schweren Stein vom Eingang wegrollen sollten und ob sie dazu stark genug wären. Als sie dann aber das Grab sehen konnten, fanden sie es offen; Beim Näherkommen war ihnen ein Mann entgegengetreten, der ihnen erzählt hatte, Jesus sei nicht mehr da. Erließ die Frauen in das Grab schauen, das tatsächlich leer war. Nur die Tücher lagen noch dort. Es sah aus, als habe Jesus sich selbst aus ihnen befreit. Daraufhin ließen sie alles liegen und stehen und rannten dorthin, wo sie die Apostel vermuteten, um ihnen zu erzählen.

Maria hatte sie laufen lassen und war noch beim Grab geblieben. Sie versuchte sich vorzustellen, was geschehen sein könnte. Auf einmal sah sie einen Mann daherkommen und dachte, es sei der Gärtner. Den fragte sie, wie es sich gehörte, ohne ihn anzublicken, ob er wisse, wohin der Leichnam Jesu gebracht worden sei.

Der Gärtner redete sie mit ihrem Namen an: "Maria!"

Diese Anrede konnte nur von Jesus kommen. Sie schaute auf, erkannte ihn und flüsterte voller Staunen: "Rabbuni!"

"Er war es. Er war es ganz bestimmt. Er lebt! Ich habe ihn gesehen. Ich habe keinen Zweifel und ich bin auch nicht krank. Er lebt, Johanna! Ich wollte ihn in den Arm nehmen, aber da sagte er:

'Rühr' mich nicht an, denn ich bin noch nicht zu meinem Vater aufgefahren'. Dann war er für meine Augen wieder unsichtbar."

Maria war selig. Es gab für sie nicht den geringsten Zweifel, und auch ich konnte mir nun den Sänger unter meinem Fenster erklären. Das Weizenkorn, das gestorben war, um zu leben.

Dies war für mich der Anfang einer Entwicklung in den kommenden Wochen, die ich nicht beschreiben oder geordnet erzählen kann. Ich möchte dir stattdessen einen Brief geben, der besser, als ich es kann, die Ereignisse ordnet und miteinander in Zusammenklang bringt. Ich selbst bin in dieser Zeit in Galiläa gewesen, wohin mein Mann mit seinem König zurückkehren musste. Dorthin drangen viele Gerüchte, die uns immer wieder in Aufregung versetzten. Maria war mit uns gegangen. Die andern Frauen waren in Jerusalem geblieben.

Hin und wieder trafen wir Jünger Jesu, die wie wir nach Galiläa zurückgekehrt waren. Alle hatten in irgendeiner Form Begegnungen mit Jesus gehabt und wussten, dass er lebt.

Etwa eine Woche vor dem Pfingstfest packte uns die Unruhe. Nicht nur uns. Auch andere Jünger machten sich auf den Weg nach Jerusalem. Diesmal durchquerten wir Samaria und waren darum schneller in der Stadt als damals mit Jesus. Auch mein Mann hatte sich Urlaub genommen, und natürlich war Maria bei unserer Gesellschaft. Irgendwie waren wir alle gespannt, als wenn etwas Besonderes geschehen müsste. Ich war überzeugt, dass Jesus sich jetzt offen als Messias beweisen würde.

Dann würden wir alle mit ihm und dem ganzen Volke in Gottes Neue Welt einziehen. Die Widersacher würden ihren Widerstand aufgeben. Friede würde sein. Auch die Römer und Zeloten würden nicht mehr auf Gewalt setzen. Die Menschen würden immer freundlich miteinander umgehen. Keiner würde mehr hungern, keinem würde Unrecht geschehen.

Dass Jesus lebte, war für alle unsere Freunde aus seinem früheren Umkreis keine Frage mehr. Viele hatten ihn gesehen, mit ihm gesprochen, mit ihm gegessen. Niemand machte sich Gedanken über die Art seiner Existenz. Er lebte, und das war genug. Er würde ja bald in voller Herrlichkeit vor das Volk treten. Manche malten sich diesen Auftritt in den glühendsten Farben aus.

Kaum waren wir aber in Jerusalem und wieder in unserem alten Quartier im Herodespalast, wurden wir aus diesen Träumen gerissen. Jesus hatte den Jüngern, die ihn auf den Ölberg begleitet hatten, klargemacht, dass sie ihn nun nicht mehr sehen würden. Er hatte ihnen aufgetragen, in alle Welt, zu allen Völkern zu gehen und die gute Botschaft von Gottes Güte allen Menschen weiterzugeben. Das erinnerte mich an die Aussendung damals in Galiläa.

Vorderhand aber konnte sich niemand vorstellen, wie er diesem Auftrag Folge leisten könnte. Allgemein herrschte eine eher gedrückte, weil ratlose Stimmung.

Lies jetzt den Brief!



Oskar Herwartz

Brief des Lukas an Theophilos

Sei gegrüßt, lieber Theophilos und hab Dank für Deinen Brief, der mir Gelegenheit gibt, etwas genauer auf die Tage zwischen der Kreuzigung Jesu und Pfingsten einzugehen. Erinnere Dich der Lage:

Jesus war seinen Weg zu Ende gegangen, bis in den Tod, den er mit den Worten: "In Deine Hände, Vater, gebe ich meinen Geist" annahm. Die Jünger und Freunde waren verzweifelt. Für sie war alles zu Ende. Jesu Geist kein realer Wert mehr. Nach Gottes Willen aber sollten gerade diese Verzweifelten Jesu Geist in die Zukunft tragen. Also mussten sie erst einmal davon überzeugt werden, dass Jesus nicht tot ist, dass sein Geist in den Händen des Vaters lebt, dass dieses Leben für sie reale Wirklichkeit ist.

Es gibt eine Menge Berichte von durchaus kritischen Zeugen, die alle das Gleiche verkünden: Jesus lebt! Würdest Du diese Zeugen nach dem "Wie" und "Wo" fragen, Du erhieltest letztlich immer die gleiche Antwort: "Das wissen wir nicht, aber wir wissen, er lebt!" Natürlich freuten sich die Jü³nger. Anfängliche Zweifel wichen der Gewissheit. Diese aber bewirkte weder eine Befreiung von der Angst, noch eine wie immer geartete Aktivität. Im Gegenteil: der Kreis derer, die Jesus vor seinem Tode gekannt hatten, scheint sich auf dieses neue Zusammenleben mit ihm eingestellt und alles allein von ihm erwartet zu haben.

Darum eine neue Maßnahme Gottes: Die Erscheinungen hörten auf. Die letzte machte den Jüngern deutlich, dass eine Periode zu Ende sei. Sie bildet auch tatsächlich einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Jesus und ihnen. Ich habe dieses Ereignis daher sowohl als Abschluss meines Buches über das Leben Jesu in der Welt, wie als Anfang meines anderen von der Geschichte des immer gegenwärtigen Jesus eingesetzt. Tatsächlich war die Situation nach dem Ende der Erscheinungen so, dass die Jünger nun zwar voll überzeugt waren, dass Jesus lebt, aber Konsequenzen zogen sie aus dieser Überzeugung auch jetzt noch nicht. Sie warteten einfach auf sein Wiederkommen. Vielleicht heute? Oder morgen? Aber sehr bald! Gott aber handelte: Wie die Larve in der Puppe ein verborgenes Leben führt und sich dabei aus einer hässlichen Raupe zu einem bunten Schmetterling entwickelt, so lebte in der Jüngerschar die Erinnerung an Jesus. Du kannst ruhig sagen: Jesu Geist lebte in ihnen und wandelte sie.

Der drängte sie nämlich, sich immer wieder neu von ihren Erlebnissen mit ihm zu erzählen. Immer mehr erfüllte sich das Wort: Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen. Allerdings ahnten sie davon vorderhand nichts. Es dauerte einige Zeit bis sich zunächst eine innige Freude und Erwartung aller einstellte. Immer mehr Jünger kamen zusammen. Es entwickelte sich eine Stimmung, die ich als "Brausen wie bei einem Sturm" umschrieben habe. Man ist ja so hilflos, wenn man etwas Unfassbares beschreiben soll. Meine Gewährsleute konnten es auch nicht besser. In dieser Stimmung bat Maria, die Mutter Jesu, den Johannes, ihr doch noch einmal von jenem Abend vor seiner Gefangennahme zu erzählen. Wie es ihre Art war, hörte Maria seiner Erzählung aufmerksam zu, als ob sie sich an ein eigenes Erlebnis mit Jesus erinnerte. Als Johannes geendet hatte, wandte sie sich an Petrus, der durch Kopfnicken jedes Wort des Johannes bestätigt hatte, und sagte: "Wenn Jesus Euch gesagt hat: Tut dies zu meinem Andenken, warum tut ihr es dann nicht?"

Petrus schaute sie konsterniert an. Er war ehrlich erschrocken über das, was sie ihm zumutete. Maria machte ihm aber Mut:

"Jesus hat mir so viele Rätsel aufgegeben. Sie lösten sich alle, wenn ich ihm vertraute, und machte mich dann immer sehr glücklich. Erinnerst Du Dich nicht mehr an die Geschichte in Kana bei der Hochzeit? Mir scheint, selbst das dunkle Rätsel seines Todes beginnt sich zu lösen. Wir sollten Jesus einfach gehorchen!"

Inzwischen waren alle aufmerksam geworden. Da gab sich Petrus einen Ruck und stand auf. Etwas stockend begann er zu sprechen. Seine ersten Worte waren eine Bitte um Verzeihung, dass er jetzt etwas tun wollte, was Jesus getan hatte. Langsam festigte sich seine Stimme. Mit offenbarer Freude erzählte er die Geschichte jenes Abends wie eine gute Botschaft. Die, die damals mit dabei gewesen waren, bestätigten seine Worte immer wieder durch Zustimmungen. Als er aber erzählte, wie Jesus das Brot gesegnet, gebrochen und verteilt hatte, sagte er das nicht nur, sondern griff in den Brotkorb, nahm wirklich ein Stück Brot, segnete es und verteilte es an alle. Entsprechend machte er es auch mit dem Kelch.

Wir können uns heute nur schwer vorstellen, wie die Worte "DIES IST MEIN LEIB" und "DIES IST MEIN BLUT" gesprochen durch Petrus auf die Versammelten wirkte. Wie ein Feuer im trockenen Busch durch einen Sturm zu plötzlicher Lohe aufgepeitscht wird, so wirkte die plötzliche Erkenntnis: Jesus ist hier, hier bei uns, Er wird uns nie mehr verlassen, wie eine Feuersbrunst. Fenster und Türen wurden aufgerissen. Alle redeten durcheinander, fielen sich um den Hals, stießen sich, riefen, sangen und tanzten. Man konnte sie wirklich für betrunken halten.

Am ehesten fing sich Petrus wieder, wenn auch durch Gottes Fügung auf einer neuen Stufe seines Seins. Mutig konnte er auf die Straße gehen, wo sich eine Menge Neugieriger zusammengefunden hatte, und konnte offen von Jesus erzählen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Mehr oder weniger ging es den anderen ähnlich. Und auch mir ist es später so gegangen, als mich die Gnade berührte.

Die Schmetterlinge flogen und fliegen seither.

Befreie auch Du Dich von Deinen Fesseln und fliege mit!

Es grüßt Dich Dein Lukas



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