Oskar Herwartz: Orte meiner Jugendzeit



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Anmerkung der Redaktion: In den Notizen an seine Enkelkinder erwähnt Oskar, dass er über seine Jungendzeit einen separaten Bericht schreiben will bzw. bereits geschrieben hat. Diese Berichte werden hier vorgelegt. Es sind mehrere: In Hildesheim, In Hameln, In Koblenz, In Düsseldorf, In Goch. Die Texte wurden in der Zeit zwischen 1995 und 1998 geschrieben.
Abweichend von den Sprachregelungen in den anderen Texten spricht Oskar hier von seinem eigenen Vater und Großvater.

In Hildesheim

Wenn ich an meine frühesten Jahre denke, so kommt mir das Haus in den Sinn, in dem wir wohnten, und in dem ich auch geboren bin. Es ist das Haus Moltkestrasse 59 in Hildesheim. Wir, das heißt meine Mutter Antonie Herwartz, geborene Menshausen und mein Vater Oskar, der allerdings bei meiner Geburt am 1.1.1915 im Felde war. Das Haus war eines dieser "Baukastenhäuser", von denen es in Hildesheim früher eine große Menge gab, und von denen ein großer Teil auch die Vernichtung der Kernstadt überlebt hat. Sie standen ja in den Randgebieten der Stadt.

Die Moltkestraße war zu meiner Kinderzeit so wenig befahren, dass sogar Gras darauf wachsen konnte. Zur Straße hat das Haus - es steht noch heute - einen Vorgarten und rechts eine Art Durchfahrt in den Hof und den Garten. Von dieser Durchfahrt aus ging man in das Haus. Wir wohnten parterre. Zur Wohnung gehörte auch der Hof und der Garten. Im Sommer war der mein Reich, sobald ich laufen konnte und einigermaßen frei war von meiner Mutter, der ich allerdings viel zu schaffen gemacht haben soll, weil ich noch nach ihrer Brust verlangt habe, als ich schon mit einer Fußbank hinter ihr herlaufen konnte.

Mutter klagte oft über die Kälte der Wohnung. Natürlich hatte sie Ofenheizung. Darum ist es verständlich, dass das früheste Problem, mit dem ich als Kriegsfolge in Berührung kam, der Kohlenmangel war. Bei der Lösung des Kohleproblems holte ich mir die erste Enttäuschung: Ich weiß nicht mehr, mit wem ich es unternommen habe, ich nehme an mit meinem älteren Vetter Franz Bleidorn. Jedenfalls beschlossen wir eines Tages, ein eigenes Bergwerk anzulegen. Vermutlich wusste Franz schon, dass Kohlen unter der Erde gefunden wurden. Wir steckten also auf dem Sandplatz im Garten ein Viereck ab und gingen in die Tiefe. Es dauerte gar nicht lange, da hatten wir schwarze Steine gefunden, die wir mit einem kleinen Wagen vor das Kellerfenster im Hof fuhren. Das Entzücken des Hausbesitzers und meiner Mutter kann man sich leicht ausmalen, wenn man sich einen nicht unbeträchtlichen Haufen Kohlenschlacken vor dem Kellerfenster vorstellt, die eigentlich zur Wegebefestigung im Garten dienen sollten.

Aus dem Garten habe ich noch einen anderen Denkzettel mitbekommen. Einer der Apfelbäume hatte einen schrägen Stamm, an dem ich gerne raufkletterte. Eines Tages bin ich dann abgerutscht und habe mir eine Schramme am rechten Unterschenkel zugezogen. Die Narbe ist mitgewachsen und heute wohl so lang, wie damals das ganze Bein war.

Noch eine andere Narbe trage ich als Erinnerung an diese frühe Zeit: Meine Mutter brachte ihre Wäsche immer in ein Haus, das auf der anderen Straßenseite weiter in Richtung zur Einumer Strasse lag. Dort stand eine Wäschemangel, die Mutter selbst bedienen musste. Sie war eine große, hölzerne Maschine mit beweglichen Rollen, die auf einer Bahn liefen. Ich habe das Ganze nicht mehr so in der Erinnerung, dass ich dieses Ungetüm richtig schildern könnte. Auf jeden Fall habe ich eines Tages meinen kleinen Finger der rechten Hand unter eine der Rollen gekriegt. Das Geschrei muss wohl ziemlich groß gewesen sein. Ich erinnere mich, dass ich den kurzen Weg nach Haus auf den Armen meiner Mutter zurücklegte, und dass mein Blut in eine Emailschüssel mit Wasser tropfte.

Zeitweilig müssen wir auch zwei Gänse besessen haben, die auf der Straße weideten. Es gab die Legende, ich hätte, noch im Kleidchen, das früher auch die Jungs trugen, bevor sie die "ersten Hosen" anziehen konnten, diese Gänse auf der Straße gehütet. Zur Erhärtung dieser Sage gibt es oder gab es ein Bild von mir, wie ich im Alter von neun Monaten im Kleidchen am Kellerfenster stehe.

Im Haus Moltkestraße ist auch mein Bruder Wolfgang geboren. Am 25. Juni 1917. Ich soll, als ich die Nachricht erhielt, den dringenden Wunsch geäußert haben, ihn sogleich mit auf den Sandhaufen im Garten nehmen zu dürfen. Besonders zahlreich dürfte demnach meine Gesellschaft nicht gewesen sein. Ich erinnere mich konkret nur an ein Mädchen, das am heutigen Bismarckplatz in den hohen Miethäusern gewohnt haben muss. Das trat aber erst am Ende der Hildesheimer Zeit in Erscheinung. Ich weiß weder Namen noch sonst etwas von ihr. Die beiden Vettern, die als Spielgefährten in Frage kommen konnten, waren der schon genannte Franz Bleidorn, der auf der Bahnhofsallee wohnte, und Helmut Schlote, der in der Weißenburger Straße zuhause war. Da waren tägliche Treffen nicht gut möglich.

Mit meinem Vater verbinde ich aus dieser frühesten Zeit nur wenige Erinnerungen. Bei meiner Geburt war er mit seinem 1/rheinisches Feldartillerieregiment Nr. 6 (von Holtzendorf) in der Winterschlacht in den Masuren gegen die Zarenarmeen eingesetzt. Er zog sich dabei eine Erkrankung zu, die seine Entlassung zur Folge hatte. Darum kehrte er nach seiner Genesung wieder in seinen Zivilberuf als Beamter an die Reichsbankstelle in Hildesheim zurück. Ich erinnere mich dunkel, dass er in Gips modellierte. Jedenfalls sehe ich noch einige Eulen vor mir, die er nach dem Gießen mittels Malzkaffee braun gefärbt hatte. Oben im Kopf hatten sie ein Loch. Darein konnte eine Haushaltskerze gesteckt werden. Wir hatten ja nur Gasbeleuchtung in der Wohnung. Wenn die abends gelöscht worden war, blieb nur die Kerze als Beleuchtung, z.B. im Schlafzimmer. Ich meine auch, Vater hätte in Hildesheim die Schnitzarbeit an dem Bücherschrank begonnen, der heute in unserem Wohnzimmer steht. Vater war auch oft nicht in Hildesheim, weil er Vertretungen in Goslar und Alfeld zu übernehmen hatte. Das mag mein Erinnerungsdefizit erklären.

Meine Mutter war also mit mir und später noch mit Wolfgang viel allein. Mindestens zwei Reisen muss sie aber in der Zeit mit meinem Vater und mir gemacht haben. Nach Berlin, wo die Familie mit einem Autotaxi gefahren ist, ein Umstand, der mir meinem Bruder gegenüber lange einen Vorsprung in motorisierter Erfahrung brachte, obwohl ich von der Sache selbst nichts mehr weiß. Die zweite Reise ging nach Köln, wo meines Vaters Mutter, genannt Mamá, wohnte. Der Aufenthalt muss sehr kurz gewesen sein, denn meine Mutter erzählte, ich hätte lange Zeit auf das Stichwort "Köln" sofort hinzugefügt: "Da ist es dunkel".

Wichtige Personen der Hildesheimer Zeit waren Großvater und Großmutter Lenz. Großmutter hatte mit ihrem ersten Mann Josef Menshausen dessen ererbten Hof in Hockeln bewirtschaftet. Sie hatten sechs Töchter. Der Hoferbe war schon bei der Geburt gestorben. Aber auch Josef starb schon früh an einer Blinddarmentzündung und hinterließ seiner Witwe die sechs Mädchen und den Hof. Großmutter versuchte 12 Jahre diesen ihren Töchtern zu erhalten, dann verkaufte sie ihn und zog im Jahre 19o1 nach Hildesheim in die Marienstraße und heiratete Ludwig Lenz, der wie sie selbst auch von einer Rente aus Kapitalvermögen lebte. Diese Renten gingen im ersten Weltkrieg verloren. Zu der Zeit, in der meine Erinnerung spielt, wohnten die beiden im Haus des Rechtsanwalts Bleidorn, der Großmutters zweitjüngste Tochter Paula geheiratet hatte, in der Bahnhofsallee.

Um Großmutter und Großvater kreisen viele meiner Erinnerungen. Ihre Wohnung befand sich im Dachgeschoß. Das Klo war gemeinsam mit Bleidorns und lag eineinhalb Etagen tiefer. Über der Wohnung war noch ein großer Dachboden, Spielrevier für uns Kinder bei schlechtem Wetter. Doch davon vielleicht später. Großmutters Küche war klein und eng und hatte nur ein Dachfenster, aber es roch darin immer besonders gut. Das war die an der Luft getrocknete Mettwurst, die sie auch in der schlechten Zeit im und nach dem Kriege von ihren Geschwistern, die noch alle auf guten Höfen in der Gegend lebten, bekam. Sie war eine fromme Frau, ging viel zur Messe, betete den Rosenkranz für ihre Familien. Außerdem saß sie gerne in ihrem Schaukelstuhl oder auf ihrem "Thron", das war ein Sessel, der in der "Stube" auf einer Stufe stand, sodass sie sitzend aus den hochgelegenen Fenstern auf die Dächer der anderen Seite der Bahnhofsallee gucken konnte.

Großvater Lenz konnte wundervoll Geschichten erzählen: Vom Wolf und dem Fuchs, Vom Fuchs und Igel, vom Igel und Hasen, vom Bär und vom Fuchs, von den Bremer Stadtmusikanten und vielen anderen mehr. Mit Großvater verbinde ich ziemlich viele Erinnerungen aus früher Zeit. Er zeigte mir mein erstes Flugzeug, das über die Stadt flog. An seiner Hand lief ich mit zum Güterbahnhof, als das Hildesheimer Regiment aus dem Kriege nach Hause kam. Ich sehe noch die feldgrauen Soldaten aus den Güterwaggons klettern und antreten. Um sie herum selbstverständlich viele Frauen mit Kindern und andere Bürger der Stadt, die von der Ankunft erfahren hatten, und nun "ihren" Soldaten begrüßen wollten. Die aber blieben in ihrer militärischen Ordnung und marschierten erst einmal mit klingendem Spiel und unter Waffen, begleitet von ihren Angehörigen zur Kaserne, wo sie entlassen wurden. Ich kann heute durchaus verstehen, dass diese Männer nicht begreifen konnten, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Kamen sie doch alle tief aus Feindesland. Ungeschlagen, wie die meisten meinen mussten. Hier scheint mir eine der Wurzeln der "Dolchstoßlegende" zu liegen. Die Truppe, einschließlich ihrer Offiziere, war offenbar nur mangelhaft informiert gewesen, dass die Oberste Heeresleitung in richtiger Einschätzung der Lage den Krieg verloren gegeben hatte und nicht eine zivile Regierung. Wie anders war meine Heimkehr aus dem zweiten Weltkrieg auch nach Hildesheim!

Wenige Wochen später, so jedenfalls meine Erinnerung, kam es zu schweren Kämpfen in der Bahnhofsallee und in der Bernwardstraße, die beide den Bahnhof mit der Stadt verbinden. "Goßlarsche Jäger", wie es später hieß, hatten Barrikaden errichtet und verteidigten diese Stellungen gegen "Spartakisten", von denen man erzählte, sie hätten sich unter die Passanten und Schulkinder gemischt, die vom Bahnhof in die Stadt wollten. Es wurde geschossen. Die Soldaten konnten ihre Stellungen hinter den Barrikaden offenbar leicht behaupten. Doch gab es wohl auch Opfer, denn ein Sanitätsauto fuhr wiederholt in der Friedrichstrasse, der heutigen Jan-Pallach-Straße, weg. Mehr ist nicht mehr in meiner Erinnerung, weil wir natürlich nicht auf die Straße durften, und aus Großmutters Fenster mehr nicht zu erkennen war für einen kleinen Jungen. Dass ich überhaupt etwas davon mitbekommen habe, lag daran, dass meine Mutter schwer an Rheuma erkrankt war und von Großmutter in deren Wohnung gepflegt wurde.

Am nächsten oder übernächsten Tag ging ich an Großvaters Hand an den Sperren vorbei. Dabei sah ich dann auch das schwere wassergekühlte Maschinengewehr, das in der Mitte aufgestellt war.

Es lag wohl auch an der Zeit, dass ich Schweres und Banales unvermittelt nebeneinander erzähle. Manchmal ging ich mit Großvater zum Barbier. Er rasierte sich nämlich nicht selbst, sondern benötigte dazu fremde Hilfe. Der Barbier, dessen Laden schon von weitem an einer "goldenen" Schaumschüssel zu erkennen war, die über seinem Eingang an einem eisernen Arm an Ketten aufgehängt war, hatte einen für heutige Verhältnisse sehr kleinen und primitiven Arbeitsraum in der Osterstrasse(?). Zuerst musste man sich auf einen Stuhl setzen und warten. Endlich kam Großvater dran. Hinten am Barbiersessel war eine Kopfstütze mit einer Papierrolle, sodass jeder Kunde seinen Kopf auf frisches Papier legen konnte. Großvater lag nun nahezu waagerecht. Der Barbier nahm eine Serviette, befestigte sie am Hals, indem er sie hinter Großvaters Kragen steckte. Dann holte er aus einem Bort an der Wand, in dem in kleinen Fächern etwa 30 nummerierte Näpfe standen, den mit Großvaters Nummer, und begann darin Seife zu Schaum zu schlagen. Das tat er mit einem Pinsel aus Schweinsborsten. Der Schaum wurde in Großvaters Gesicht gebracht. Dort wurden die Stoppeln mittels Pinsel und Fingerspitzen eingeschäumt und weichgemacht. Nun griff der Barbier zum Rasiermesser und zog es an einem an der Wand hängenden Lederriemen ab, probte erst am eigenen Handrücken, dann am Bart des Kunden. Schließlich begann er an den Schläfen zu schaben. Die abgeschabten Haare und den Schaum strich er am Zeigefinger ab und schlenkerte beides elegant in das Waschbecken. Die Abschabeprozedur im Gesicht war zweimal nötig, dann wurde es abgewaschen und schließlich mit der Serviette abgetrocknet. Fertig! Dass für die wartenden Kunden Zeitungen bereitgelegen hätten, weiß ich nicht mehr. Aber ich konnte ja noch gar nicht lesen. Ob es damals schon Illustrierten gab, weiß ich nicht. Kennengelernt habe ich sie erst in Goch.

Großvater stammte von einem Hof in Kleindüngen. Aus diesem Grunde und weil er in dem Getreideschuppen seines Schwiegersohnes August Bank am Bahnhof Großdüngen arbeitete, war ich oft mit ihm in der dortigen Gegend. Im Schuppen mussten wir den eingelagerten Roggen, Weizen, Hafer oder die Gerste um schaufeln, damit das Getreide nicht durch seine eigene Feuchtigkeit Schaden nahmen. Es gab ja noch keine Silos, Gebläse und Fördergeräte. Großvater arbeitete allein mit mir. Sicher war ich eine tolle Hilfskraft. Aber immerhin konnte ich doch schon Säcke aufhalten, die er auf der Waage mittels einer Holzschaufel füllte, abwog und versandfertig machte. Großvater lehrte mich alle Getreide-sorten kennen und erkennen. In meinen Schuhen waren abends, wenn wir zu Großmutter zurückkamen, immer eine Menge Körner. Ich war überzeugt, dass Großmutter sie zu Kaffee brannte. Dazu hatte sie besonderes Gerät, in dem die Kaffeebohnen über dem Herdfeuer unter dauerndem Rühren geröstet wurden. Meist aber hatte sie keinen Kaffee und musste sich daher mit Gerste behelfen.

Manchmal waren die fertigen Säcke in einen Waggon zu laden. Dazu mussten wir uns den erst mal auf dem Gleis vor unseren Schuppen rollen. Großvater hatte zu diesem Zweck einen "Kuhfuß", mit dessen Hilfe er den Waggon in langsame Bewegung setzte. Wenn er dann erst einmal leise rollte, konnte er ihn leichter schieben. Dabei musste ich natürlich kräftig helfen. Manchmal schob ich den Waggon ganz allein. Seine Trägheit gab mir das Gefühl, ich könnte das. Großvater brachte ihn dann mit einem Bremsschuh richtig vor unserem Schuppen zum Stehen. Nun mussten wir einen Steg aus Böcken und Brettern bauen. Das konnten wir gut. Über diesen Steg fuhr Großvater die Getreidesäcke aus dem Schuppen in den Waggon. Natürlich machten wir manchmal Pause. Großvater zeigte mir, wie man Brot und Wurst mit dem Taschenmesser "über den Daumen" essen kann. Meistens war es Knackwurst, eine Spezialität der Hildesheimer Gegend.

Nach Feierabend gingen wir oft nach Kleindüngen an die Lamme zum Fischen, manchmal auch an die Innerste bei der Hainder Mühle. Wir fingen Weißfische und Rotfedern. Ich glaube, es war gar nicht so selten, dass wir Beute machten. Mehr jedenfalls als Wildenten, die Großvater unter der "Hochspannung" zu finden hoffte. Hin und wieder kehrten wir bei Lenz in Kleindüngen ein, auf dem Hof, auf dem viele Jahre später Anneliese mit unserem Sohn Christian vor den Bomben Sicherheit fand und den Sohn des Hauses in Deutsch zu unterrichten versuchte. Öfter noch waren wir in der Kleindünger Mühle, vor deren Wehr die Fische besonders gut anbissen. Die Besitzer oder Pächter hatten keine Kinder und erzählten immer wieder, ich solle einmal ihre Mühle erben.

Damals gab es noch auf jedem Bahnhof eine "Sperre", an der die Fahrkarten kontrolliert wurden. In Hildesheim musste ich immer ganz dicht bei Großvater bleiben und mich an der Sperre ducken, damit mich der Kontrollbeamte mich nicht sah. Auf diese Weise wurde mein Fahrgeld eingespart. Man kann den erzieherischen Aspekt gar nicht hoch genug einschätzen. Ich habe davon bestimmt einen Hang zum Mogeln und Betrügen fürs Leben mitbekommen. Finanziell war die Sache bedeutungslos, weil ich ohnehin nichts zu bezahlen brauchte.

Mit Großvater war ich auch gelegentlich in Emmerke. In späterer Zeit, wenn wir in Ferien nach Hildesheim kamen, war ich einmal mehrere Wochen dort. Großvater half damals auf dem Hof eines Verwandten bei der Ernte. Morgens in aller Frühe stand er schon auf und fuhr mit einem leichten Ackerwagen, der von einer Kuh gezogen wurde, auf das Feld, um Klee zu holen, der dann an die Kühe im Stall verfüttert wurde. Einmal fuhren wir auch sehr lange mit dem kuhbespannten Wagen in ein Nachbardorf, weil die Pferde alle im Ernteeinsatz waren. Da mussten sie die Mähmaschinen ziehen oder gar den "Selbstbinder". Der konnte nicht nur das Getreide abschneiden und dann auf den Boden werfen, wie eine Mähmaschine. Der Selbstbinder sammelte die Halme zu Garben und band sie mit einer festen Kordel zusammen. Dann aber fielen diese auch auf den Boden und Mägde wie Knechte mussten hinterher gehen und die Garben zu Hocken zusammenstellen, damit sie im Wind trocknen konnten. Hinter einer Mähmaschine mussten Mägde oder Kinder die auf der Erde liegenden Halme aufraffen und mit einem Strohwisch zu Garben binden. Das musste gelernt sein. Es ist klar, dass bei diesen Methoden relativ viele Halme liegen blieben. Die wurden zwar mit dem von Pferden gezogen Rechen zusammengeharkt und auch zu Garben gebündelt. Dennoch blieben eine Menge Ähren liegen, sodass sich das Lesen lohnte.

Noch nach dem letzten Krieg sind wir auf die Felder zum "Stoppeln" gegangen, um Getreide für uns oder die Hühner zu bekommen. Wenn das Erntewetter gut war, konnte das getrocknete Getreide bald eingefahren werden. Dann liefen auf den Höfen die Dreschmaschinen, die so viel, wie möglich von dem eingefahrenen Getreide gleich droschen. Aber trotzdem musste das meiste in der Scheune gelagert werden, damit es später im Winter gedroschen werden konnte. War das Wetter aber schlecht, so konnte es vorkommen, dass das Getreide in den Stiegen oder Hocken nicht trocknete, sondern zu keimen anfing und sogar richtig grün wurde. Dann war es natürlich oft nur schlecht verkäuflich und konnte nur noch verfüttert werden. Erntezeit war die letzte große Anstrengung im Jahr, besonders dann, wenn nicht genügend Mähmaschinen zur Verfügung waren und die Männer mit der Handsense arbeiten mussten. Hinter ihnen ging dann die Reihe der Mägde, die mit ihren Sicheln die Halme zu Garben sammelten und banden.

Die Kartoffeln wurden feldmäßig herausgepflügt. Bei kleineren Stücken und im Garten mussten sie Host für Host gerodet werden. So geschah es auch bei den Zuckerrüben, die mit einer Spezialgabel aus dem Boden gebrochen wurden. Die Arbeit auf dem Hof riss nicht ab, denn jeder hatte auch noch Tierhaltung. Kühe und Schweine und dazu die Pferde. Die Kühe wurden zweimal am Tage von Mägden gemolken. Die Milch wurde sorgsam gesammelt und in Kannen zur Molkerei gebracht. Eine hofeigene Milchverwertung gab es damals meist nicht mehr. Allerdings: Tante Helene in Harsum, die Schwester meiner Großmutter, machte immer noch selbst Handkäse, sogenannten Harzer.

Weil die Tiere eine dauernde Aufsicht und Pflege brauchten, schliefen die dafür verantwortlichen Knechte in den Ställen. Dort hatten sie einen kleinen Verschlag und einen Strohsack. Im Kuhstall, wenn er eine bestimmte Größe hatte, herrschte ein "Schweizer". So war die Berufsbezeichnung für den Mann auf dem Hofe, der die Sorge für das Rindvieh hatte von der Zucht, den Kälbern, der Milch bis zum Schlachtvieh. Er hatte ein weiß-rot gesteiftes Hemd an.

Natürlich lag mitten auf dem Hof der Misthaufen, auf dem die Hühner eifrig nach Nahrung suchten. Jeder Hof hatte außerdem Puten, Enten, Gänse. Manche konnten stolz einen Pfauenpaar vorweisen und viele einen Taubenschlag. Ein Bauer meiner Kinderzeit hatte alles, was er zum Leben brauchte selbst. Nur der Anbau von Flachs war schon sehr gering geworden und die Weiterverarbeitung von Wolle konnte nur noch sehr eingeschränkt auf dem Hof betrieben werden.

Die Erfahrungen in Emmerke machte ich natürlich erst als Schuljunge von 7 oder 8 Jahren. Zu denen gehörte auch, dass im Wohnhaus des Hofbesitzers ein Klo im ersten Stock war, das so an die Giebelwand gebaut war, dass die Exkremente im freien Fall bis auf den Boden fielen. Um die Fallbahn war ein Gerüst gebaut, das außen mit Luftziegeln behängt war. Das Ganze war sehr luftig. Es gab zwei "Brillen", die in ein Brett geschnitten waren. Eine kleine und eine große. Auf dem Klo lag immer bedrucktes Papier. Und so lernte ich denn nach und nach alles über vulkanische und tektonische Erdbeben. Nach Emmerke fuhren wir übrigens mit einem "Triebwagen" ein Fahrzeug der "Reichsbahn", dass mit Gleichstrom aus Batterien betrieben wurde. Solche Triebwagen verkehrten noch 1955 zwischen Hildesheim und Elze, der Strecke, an der auch Emmerke liegt.

Ein Omnibus ist ein Verkehrsmittel "für alle". Keine Kutsche für bestimmte Leute, sondern für alle. Einmal bin ich mit Großvater in einem Omnibus gefahren. In der Osterstrasse gegenüber einem wunderschönen Fachwerkbau fuhr er ab. Es war ein schwerer Wagen mit eisenbereiften Holzrädern und zwei schweren Rössern an der Deichsel. Der Kutscher auf dem Bock verkaufte auch die Billets, nehme ich heute an. Dann stiegen wir von der Rückseite über ein kleines Treppchen in den Wagen, einem Kasten mit einer Plane darüber, ohne Fenster. Etwa zehn oder zwölf Personen hatten Platz auf den an beiden Seiten laufenden Holzbänken. Wir fuhren über Einum nach Dingelbe. Was wir da wollten, weiß ich nicht.

Nach Harsum fuhr ich nur mit Großmutter, wenn die ihre Schwester Helene Machtens besuchte. Die war die Herrin eines großen Hofes, der sich später durch Erbschaft noch fast verdoppelte. Die Böden dort tragen Weizen und Zuckerrüben. Der Besitzer Heinrich Machtens gehörte zum "Millionenclub" in Hildesheim. Darum war dort alles ein bisschen "entwickelter": kein Plumsklo usw. Dort hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben Radio. In Kopfhörern lauschten wir einer kaum vernehmbaren Musik und es hieß, die käme aus Hamburg oder Berlin oder Amerika. Man wusste es nicht so genau, aber man hatte Radio. Besonders Gemeinschaft fördernd war es, wenn drei in der "Guten Stube" einen Kopfhörer hatten und die andern nur flüstern durften, damit die drei "Amerika" hören konnten. Das war natürlich erst in den endzwanziger Jahren. Aber damals mit Großmutter war es schön in Harsum. Die Pferde, die Kühe und Schweine, die Puten und Gänse, das Pfauenpaar und der Esel. Trotz der offenbaren Wohlhabenheit backte Helene immer noch den Handkäse, den "Harzer", selbst und verkaufte ihn auch stückweise. Sie lagen zum "Gutwerden" immer auf den Brettern der Fenster. In späterer Zeit bin ich noch öfter auf dem Hof in Harsum gewesen. Der war immer ein Stück vor seiner Zeit. Nicht nur beim Radio, sondern auch beim Bau der neuen Scheune und bei der Tierfütterung. Ich habe dort zum ersten Mal eine automatische Tränke gesehen, die von den Pferden selbst bedient werden konnte. Vorläufig aber waren auch die modernsten Höfe noch autark in allen Lebensmitteln, die die Bewohner brauchten. Nur den Überschuss verkauften sie.

Die Zuckerrüben bildeten eine Ausnahme. Mit ihrem Anbau wurde der Hof Teil eines, noch überschaubaren, "Systems". Denn es hatte keinen Sinn Zuckerrüben anzubauen, wenn keine Zuckerfabrik in der Nähe war, die die Ernte abnehmen konnte. Das war nicht nur ein technisches Problem, auch die Verträge mussten so gestaltet sein, dass sich der Bauer darauf verlassen konnte, dass seine Ernte abgenommen wurde; er konnte sie ja selbst nicht verwerten. Die Zuckerfabrik hatte fast immer ein Abnahmemonopol. Da es noch keine Trecker gab, konnte die Ernte nur durch Pferdegespanne angefahren werden. Rübenanbau bedeutete auch Einsatz vieler Arbeitskräfte. Das Säen allein konnte mit der Drillmaschine gemacht werden. Wenn die Saat aufgelaufen war, mussten die Reihen gehackt werden. Nur die starken Pflanzen blieben stehen. Zwischen den Reihen musste der Boden gelockert werden. Bei der Ernte wurde Rübe für Rübe von Hand mit einem zweizinkigen Gerät ausgemacht. Die Blätter wurden abgemacht und auf Haufen gesammelt. Dort wurden sie mit Erde bedeckt und so zu Winterfutter für die Kühe. Zuckerrüben bedeuteten Reichtum.

Für ein Kind ist ein Bauernhof ein ideales Revier. Schade, dass es in Harsum damals nur die viel ältere Aloisia gab, die mit ihrer Mutter, Tante Cäcilie, auf dem Hof wohnte. Cäcilie war als Tochter Helenes auf dem Hof aufgewachsen. Sie hatte dann einen Hofbesitzer in Westfalen geheiratet. Ihr Mann starb aber noch vor der Geburt seines Kindes. Nach damals in Westfalen herrschendem Recht durfte die Mutter nur auf dem Hofe bleiben, wenn sie einen Sohn zur Welt brachte. Als Aloisia geboren war, musste Cäcilie wieder zu ihren Eltern zurück. Sie heiratete nicht wieder, sondern wurde die Tante, die immer zur Stelle war, wenn sie gebraucht wurde, sei es bei einer Geburt oder beim Schlachten. Dennoch führte sie nach dem Kriege in Harsum ein nur geduldetes Dasein. Ihre Ansprüche an den Hof ihres Mannes waren vom Krieg gefressen. Sie pflegte ihre Mutter zu Tode und dann war sie eben die Tante Cäcilie. Schließlich heiratete ihr Bruder Heinrich auch und seine Frau wurde die Hofherrin. Wie im Märchen!

Cäcilie war die Einzige in Hildesheim, die Anneliese verstand, als diese sich am Ende des Krieges vor den Russen nach Hildesheim in Sicherheit gebracht hatte. Sie hat ihr Mut zugesprochen, hatte sie doch selbst erlebt, wie einsam eine Frau allein in der Verwandtschaft ihres Mannes ist.

Cäcilie war Cousine meiner Mutter. Zum "Cousinenkaffee" gehörten neben Mutter und ihren Schwestern Ella und Paula noch Marie Ernst, eine Schwester Cäciliens. Sie war mit dem Hofbesitzer Ernst in Großdüngen verheiratet und lieferte oft Beispiele für eine besondere Art von Torheit: Nach ihrer Hochzeit erschien sie wieder auf besagtem Cousinenkaffee. Auf die Frage, wie war denn Deine Hochzeitsreise, erzählte sie: "Maan Haanrich hat die Kutsche angespannt und dann sind wir losgefahren. Zuerst nach Detfurt. Dann nach Salzdetfurt. Und dann fuhren wir immer waater und waater. Da sagte ich, Haanrich, dascha ganz fremde Gegend. Haanrich, laß uns umkehren. Da sind wir umgekehrt und wieder nach Hause gefahren. Und dann muss ich Euch mal sagen: Maan Haanrich hat gesagt. Is alles keine Sünde. Überhaupt nich. Hab' ich immer gedacht, aber isses garnicht. Als meine Mutter kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner von Hildesheim nach Großdüngen gelaufen war, um für ihre schwer kranke Tochter Elisabeth ein Huhn zu kaufen, versprach sie: Ganz bestimmt, Toni, du sollst dein Huhn haben, wenn mir die Amerikaner nur ein einziges lassen, dann sollst du es haben.

Neben dem Cousinenkaffee gab es noch einen Laufklub in Hildesheim. Wenn ich richtig sehe, war der eine Erfindung von Freundinnen mit gemäßigtem Wandervogelgeist. Ursprünglich mögen es wohl zehn oder fünfzehn junge Mädchen und Frauen gewesen sein, die gemeinsam und ziemlich regelmäßig miteinander wanderten. Ihre Verlobten und Männer werden sie manchmal mitgenommen haben. Der Laufklub hat beide Kriege überlebt, jedenfalls ideel, denn die meisten Mitglieder sind vorher gestorben und das Wandern ist schließlich durch die Kaffeetasse abgelöst worden. Aber es war eine Fraueninitiative, der sich die Männer zeitweise angeschlossen hatten.

Mein Vater hat seine Frau auf der Rodelbahn am Galgenberg kennen gelernt. Laufklub? Mir fällt jetzt auf, dass ich aus der frühesten Zeit kaum etwas über meine Mutter gesagt habe. Ich glaube, ein Kleinkind ist sich seiner Mutter so gewiss, dass es sie nur entbehren kann, wenn sie wirklich nicht da ist. Meine Mutter scheint so selbstverständlich immer da gewesen zu sein, dass ich von ihr fast ebenso wenig erzählen kann, wie von der Luft, die ich geatmet habe.

Dagegen muss ich noch vom Haus Bleidorn in der Bahnhofsallee berichten. Dort waren wir fast immer, wenn wir in Ferien in Hildesheim waren. Wir, das sind zuerst nur Wolfgang und ich, später kam dann auch noch Elisabeth dazu. Bleidorns Kinder waren Paula, Fränschen und später Maria-Klara, genannt Mäuschen, wobei "sch" als ein Laut gesprochen wurde. Das Haus war ein Reihenhaus und hatte ein Souterrain mit Küche und Kellerräumen, das erheblich unter der Straßenhöhe lag. Zum Parterre musste man aber auch noch etwa 1o Stufen im Haus hinaufgehen bis man vor der Korridortür stand, neben der nach links die Tür ins Büro ging. Onkel Franz war Rechtsanwalt und außerdem ein Hildesheimer Original, von dem allerhand zu erzählen wäre. Seine Frau, Tante Paula, war Mutters Schwester. Sie war eine fröhliche Frau, die alle Kinder gern hatten. Unser Kinderleben spielte sich in diesem Hause entweder im Garten oder bei Großmutter und auf dem Dachboden ab.

Das Grundstück ging bis zum Pepperwort durch. Links war es begrenzt durch die Mauer einer Turmuhrenfabrik, rechts durch einen Zaun zum Nachbarn. Am Hinterausgang befand sich ein Stall, der Raum für ein Pferd und Unterstellplatz für eine Kutsche hatte. Onkel Franz hatte den Stall wohl mit dem Grundstück gekauft. Er selbst hatte keine Kutsche. Ich erinnere mich aber, dass zeitweilig ein Pferd dort unter-gestellt war. Zwischen Stall und Wohnhaus war Hof und Garten, Tobeplatz für die Kinder. Ich hatte immer eine Angst vor Onkel Franz, der heftig poltern konnte, wenn unser Lärm bis in sein Büro drang. Er hätte noch erheblich mehr Grund zum Schimpfen gehabt, wenn er entdeckt hätte, was wir mit seinen Altakten auf dem Dachboden gemacht haben. Dort lagen nämlich zwei einzelne Räder eines Fahrrades. Deren Achsen steckten wir in Astlöcher der Dielen. Darin konnten sie sich sausend drehen, wenn wir sie mit Pritschen aus zusammengefalteten Aktenblättern antrieben. Davon lagen dort massenweise in Stößen aufgeschichtet. Außerdem lag dort das Brennholz Großmutters, das ihr aus ihrem Anteil am Hockelschen Ackerort zustand. Aus diesen ofengerechten Knüppeln bauten wir immer wieder neue wunderbare Burgen.

Sehr viel von dem, was ich hier unter "Hildesheim" geschrieben habe, gehört nicht in die Zeit, in der wir dort wohnten. Ich war aber oft in den Ferien bei den Großeltern, bei Bleidorns und auch einmal bei Tante Ella. In der Erinnerung fließt das ineinander.

Außer Dachboden und Garten hatten wir bei gutem Wetter die Straße zum Spielen. Da der Verkehr sich damals noch auf die Straßenbahn einige Fahrräder und selten einmal ein Auto beschränkte, gehörte die Bahnhofsallee den Kindern. Sie war übrigens mit Eukalyptusholz gepflastert. Darauf ließ sich wunderbar Rollschuhlaufen, "Pinndopp" schlagen, Reifen treiben und Ball spielen. Manchmal ging es bis in die Dunkelheit hinein. Dabei habe ich einmal einen fürchterlichen Schrecken bekommen, als das Licht eines Dreiradautos auf mich zukam. Dreiräderige Autos hatten unter den zwei Sitzen eine Achse mit zwei Rädern. Vorne hatte es nur ein Rad in einer Art Gabel. Dieses wurde angetrieben durch einen oberhalb liegenden luftgekühlten Motor, dessen Kraft durch eine Kette auf das Rad übertragen wurde. Rad und Motor wurden durch eine Lenkstange von einem Sitz aus regiert. Das Fahrzeug machte einen Höllenlärm. Schalldämpfer gab es erst später. Ich meine, es war kein Wunder, dass ein kleiner Junge laufen ging.

Eine kleine Geschichte aus sehr früher Zeit muss ich aber noch anhängen: Mutter ging oft zum Wochenmarkt, im Zentrum der Stadt. Ich meine, ein ziemlich weiter Weg, besonders, wenn ein kleiner Junge mit soll. Aber für ein Mitglied des Laufclubs offenbar nur eine Bagatelle. Auf dem Markt traf man ähnlich viele Leute wie bei der Sonntagsmesse. Außerdem musste Mutter gut aufpassen, Ware und Preise vergleichen. Nicht immer konnte sie dabei richtig auf ihren Jungen achtgeben. Der fand dann wohl auch etwas Interessantes und war auf einmal allein im Gewühl. Jedenfalls dachte das eine fremde Tante. Die fasste ihn an der Hand und brachte ihn als Fundsache auf die Polizeiwache direkt neben dem Templerhaus. Dort fand ihn die aufgelöste Mutter wieder, wie er sich im Kreis der Polizisten mit diesen unterhielt. Ich war sicher nicht viel älter als drei.

In Hameln

In Hameln wohnten wir in einem Haus der Gröninger Strasse. Es war ein altes Haus, das eigentlich an drei Straßen lag. An jeder Straße barg es eine Wohnung. Diese lagen also nebeneinander und jede hatte ihren eigenen Eingang und eigenen Vorgarten. Unserer lag an der Domeier Straße. Auf der Rückseite des ganzen Komplexes war ein großer, teilweise mit schütterem Gras bewachsener Hof mit zwei Gittertoren, sodass ein Wagen hindurch fahren konnte. Über den Hof erreichte Mutter Waschküche und Trockenplatz. Die Wohnung war ein Fuchsbau. Die Räume waren auf zwei Geschosse verteilt. Im Souterrain, dessen Fußboden allerdings nur wenig unter Straßenhöhe lag, befanden sich Kellerräume, Küche und Kinderzimmer. Es war von außen erreichbar durch den Vorgarten und über den Hof durch einen großen Kellerraum, der vielleicht für das Abstellen von Fahrrädern und Kinderwagen gedacht war. Auch Elisabeths Kinderwagen stand dort. Wenn man von da aus die Wohnung betrat, lagen rechts Küche und Kinderzimmer, links waren eine steinerne Wendeltreppe nach oben und die Kellerräume für die Vorräte an Nahrungsmittel und Heizmaterial. Die Fenster in diesem, unteren Teil der Wohnung waren, wenn auch große, Kellerfenster. Im oberen Teil der Wohnung lagen die übrigen Räume, von denen ich aber nur verschwommene Erinnerung habe. Ich weiß nur noch sicher, dass der Raum gleich vorne rechts, wenn man vom Vorgarten über eine Freitreppe in das Haus trat, zeitweilig einem Untermieter überlassen war. Wer das war, weiß ich nicht. Vermutlich ein Bankbeamter oder ein Schützling meiner Eltern.

Ich glaube, wir sind im Frühjahr 1920 eingezogen. In der Welt und besonders in Deutschland sah es ziemlich trübe aus. Ich erfuhr damals natürlich nichts von den Unruhen und Kämpfen, durch die manche Kräfte die Ausgangssituation der jungen deutschen Demokratie in ihrem Sinne verändern wollten. Aber manche Erlebnisse aus dieser Zeit lassen sich doch als Schatten der politischen und vor allem wirtschaftlichen Verhältnisse verstehen.

Gleich in den ersten Tagen beobachtete ich vom Fenster aus, wie vor dem Haus gegenüber auf einem "Bollerwagen", das war ein hölzerner Handwagen mit vier Rädern und einer Deichsel zum ziehen, Schinken, Würste und Speckseiten eines Schweines eintrafen. Der Schlachter mit seinem Gesellen nahmen je eine Last auf und gingen in das Haus. Während sie drinnen waren, kamen Arbeiter aus der in der Straße liegenden Fabrik von ihrer Schicht. Jeder von ihnen nahm eine Wurst, einen Schinken oder eine Speckseite aus dem Wagen und ging damit seiner Wege. Ich rief nach Mutter, aber der konnte ich nur den leeren Wagen und die wütenden Leute, die aus dem Haus kamen, zeigen. Der ganze Spuk war schon vorbei. Hameln war bestimmt keine unsichere Stadt, aber mancher Arbeiter wird für seinen Lohn seine Familie nicht haben ernähren können

Wir haben, soviel ich weiß, nicht gehungert. Vater hatte sicherlich kein großes Gehalt, aber die Reichsbank passte dieses der beginnenden Inflation immer wieder an. Mutter hatte ihre nahrhaften Quellen noch bei ihrer Verwandtschaft im Hildesheimer Land. So bin ich ziemlich sicher, dass wir auch geschlachtet haben. Jedenfalls erinnere ich mich an eine Kammer, in der an der Decke Mettwürste in Reihen aufgehängt waren. Aber meine Mutter machte auch Seife selbst. Woher sie Fett und Seifenstein hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls lagen eines Tages auf unserem Küchentisch Seifenstücke zum Trocknen. Der Tisch hatte eine Linoleumplatte und die bekam von der Seife Flecke, die zum Kummer Mutters nie wieder weggingen. Immer noch gab es Heizprobleme, weil manche Siegermächte auf der Lieferung von Kohlen bestanden, die deshalb in Deutschland fehlten. Natürlich wurde auch unsere Wohnung nie recht warm. Auf der Straße sang man einen Gassenhauer, oder war es ein Karnevalsschlager, der mit dem Text: Überall ist große Kohlennot, selbst im Himmel frieret man sich tot... begann, und dann erzählte, wie ein kleiner Engel, dieser Bengel, in der Hölle einen Besuch machte, um sich aufzuwärmen. Was liegt näher, als dass Wolfgang und ich abermals versuchten, Kohlen aus einem eigenem Bergwerk zu holen. Diesmal gruben wir tiefer und brachten damit die Gartenmauer zum Nachbarn in Gefahr. So musste auch der Versuch aufgegeben werden.

Manchmal kamen zu uns zwei Russen, die sich auf die Anfertigung von Hausschuhen verstanden. Mutter ließ sich von ihnen mehrere Paare liefern. Offenbar ahnte sie, dass die beiden auch Hunger hatten, und gab ihnen zu essen und zu trinken. Sie beteten jedes Mal, auch wenn es nur ein Butterbrot war, und machten immer ein "doppeltes Kreuzzeichen". Das habe ich behalten. Die Russen waren Kriegsgefangene, die noch nicht entlassen wurden, weil die politischen Verhältnisse in Russland eine Repatriierung noch nicht möglich machten. Man stelle sich vor, in Deutschland gab es noch Kriegsgefangene eines alliierten Landes. Die Franzosen oder Briten scheint das nicht gestört zu haben. Vielleicht wollten die Gefangenen selbst nicht zurück, weil ihnen die Lage in Russland zu unsicher erschien. Vielleicht, aber ich glaube es heute nicht.

Ich bin mit Mutter mehrfach an dem Stacheldraht des Lagers gewesen. Wir konnten die Gefangenen gut sehen. Mutter sagte einmal, im Lager herrsche Genickstarre als Epidemie. Ein Wachmann habe es ihr erzählt und noch hinzugefügt, die Kranken würden nicht isoliert, damit möglichst viele Gesunde angesteckt würden und stürben. Man wüsste ohnehin nicht, wo sie schließlich bleiben sollten. Das ist natürlich unklare Erinnerung eines damals noch sehr kleinen Jungen. Sie fiel mir wieder ein, als ich von Praktiken im letzten Kriege erfuhr. Das Lager lag, nach meiner Erinnerung, im Norden der Stadt. Auf dem Stadtplan, den ich heute zu Verfügung habe, ist an der vermuteten Stelle jetzt ein Sportplatz angegeben. Ich vermute dort war bis zum Ende des ersten Weltkrieges ein Übungsplatz für die hamelner Garnison, der zum Teil Platz für das Gefangenenlager geboten hat. Was mag aus den Russen geworden sein?

Vater war mir in Hameln näher als früher. Er zeigte mir an der Weser, wie die Lachse das Wehr hinauf sprangen. Das war schon ein tolles Schauspiel, das ich heute noch deutlich vor Augen habe. In Hameln gab es zwei große Wassermühlen. Darum musste die Weser aufgestaut werden. Schiffe überwanden die Staustufe durch eine Schleuse. Die Lachse mussten springen.

Mit Vater oder auch beiden Eltern machte ich schon kleine Wanderungen zum Klüt oder zum Ohrberg oder zur Wehrberger Warte oder zu einem Gasthaus nordöstlich im Wald, welches das "Weiße Haus" hieß. Nach meiner Karte könnte es das jetzige Waldschlösschen gewesen sein. Einen Ausflug dorthin machten wir bei tiefem Schnee und ich musste die ganze Zeit einen kleinen Rehpinscher von Bekannten tragen, weil der im Schnee Schwierigkeiten mit seinen Pfoten hatte. Unterhalb des Klüt gab es einen Eisenbahntunnel, den ich für die Öffnung im Berg hielt, durch die der Rattenfänger die Kinder aus Hameln hatte verschwinden lassen.

Vater ging gern spazieren. Das hielt er auch später nach Möglichkeit bei. In Hameln ging er an die Weser. Einmal sahen wir vor der einen Mühle einen riesigen Haufen Mais liegen. Vater nannte mir den Namen des mir fremden Getreides. Er ließ es mich anfassen und erzählte, es käme aus Amerika. An Maisbrot kann ich mich aber nicht erinnern. Das gab es nach dem zweiten Krieg. Manchmal wurde ich von Mutter schon geschickt, um kleinere Besorgungen zu machen. Dabei gab es allerdings auch Pannen. Einmal sollte ich Milch in einer Blechkanne holen. Auf dem Rückweg kam ich am Ufer der Hamelte vorbei, stellte meine Kanne auf das Gras. Natürlich kippte sie um. Mit meinen Händen versuchte ich die verschüttete Milch wieder zurück zu schöpfen. Milch war damals sehr kostbar, und ich wusste das. Ein anderes Mal sollten Wolfgang und ich einen Kuchen vom Bäcker holen. Aber auch er landete auf der Straße und wurde dadurch sehr unansehnlich. Mutter musste für die Einladung einen anderen improvisieren, denn einfach vom Bäcker einen neuen holen, das gab es nicht, weil die Lebensmittel noch rationiert waren.

In Hameln wurde am 14. April 1921 meine Schwester Elisabeth geboren. Ich fand den Namen ganz toll. Elsaaaabeth sagte ich. Es war abends, als mein Vater nach Hause kam mit der Botschaft vom Schwesterchen. Mutter lag in einer Klinik. Aber Vater nahm uns Jungens an die Hand und führte uns durch den Abend vorbei an einem Jahrmarkt mit Karussels, Musik und Schaubuden, zu ihr und zu der kleinen neugeborenen Schwester. Als es soweit war, kam Mutter mit Elisabeth in Begleitung von Vater mit einer Pferdedroschke nach Hause Ich glaube, Mutter hatte eine schwere Geburt. Darum wohl wurde für Elisabeth, und natürlich auch für uns, ein Kindermädchen engagiert. Fräulein Lieschen nannten wir sie. Elisabeths Kinderwagen war so hoch, dass wir als Kinder kaum an den Griff kommen konnten. Trotzdem durften wir einmal vor dem Haus damit promenieren. Es dauerte nicht lange, dann lag der Wagen samt Elisabeth im Rinnstein.

Ich bin aber fast sicher, dass wir neben Fräulein Lieschen noch ein Hausmädchen hatten.

Zur damaligen Zeit war die Führung eines bürgerlichen Haushaltes zweifellos keine Kleinigkeit und verlangte von der Hausfrau Kenntnisse und Fertigkeiten, welche die meisten Mädchen vor ihrer Heirat richtig lernen mussten.

Die Zubereitung der Speisen allein war ja ein Vorgang, der das ganze Jahr über bedacht und getan wurde. Gemüse musste zubereitet und konserviert werden, wenn die Jahreszeit es anbot, Kartoffeln mussten eingekellert und sachgemäß gelagert werden. Obst wurde meist eingeweckt. Nur Äpfel konnten im Keller nachreifen und einige Monate aufbewahrt werden. Aus Beerenobst wurde hauptsächlich Marmelade gemacht. Sie wurde haltbar gemacht ausschließlich mit Zucker. Das Verschimmeln der obersten Schicht versuchte man mit Salizilsäure zu verhindern. Man war aber auch nicht so sehr heikel mit Verschimmelten. Die Gesundheitsrisiken waren auch noch nicht bekannt. In Hameln hatten wir keinen Garten. Daher mussten Obst und Gemüse beim Bauern gekauft oder aus Hildesheim herangeschafft werden, und zwar dann, wenn die Natur sie anbot. Das betraf besonders die Kartoffeln, das Hauptnahrungsmittel, wenn man mal vom Brot absieht, das in einem Stadthaushalt nicht selbst gebacken wurde. Auch schlachten musste die Hausfrau können. Besser sagt man wohl, das geschlachtete Tier verwerten. Das geschah in der Regel dadurch, dass sie dem Schlachter Anweisungen gab, wie er die einzelnen Teile zubereiten sollte. Das bezog sich besonders auf die Rezepte für die Wurst. Das eigentliche Schlachten vollzog sich wohl nicht bei uns. Ich habe nie gesehen, dass ein Schwein aufgetrieben worden sei. Aber die Wurst wurde bei uns gemacht. Dazu hatte der Schlachter einen Fleischwolf, mit dem er die Wurstmasse herstellte. Die wurde dann geschickt in die Därme gefüllt, die oft dazugekauft werden mussten. Die Wurst wurde im Waschkessel gekocht. Die Wurstbrühe zu Suppen verarbeitet oder verschenkt. Die aus einem Schwein gewonnene, manchmal durch Zukauf von Rindfleisch verfeinerte oder gestreckte, Fleischware musste sachgemäß weiterbehandelt, z.B. geräuchert, und verwahrt werden.

Mutter verwendete zum Konservieren von Leber- und Blutwurst auch Weißblechdosen. Die wurden mit dem Gut gefüllt und dann beim Klempner zugedeckelt. Dann wurden die geschlossenen Dosen gekocht. Wenn die Dose später leer war, wurde sie sorgfältig gereinigt und aufbewahrt. Vor einem erneuten Gebrauch musste sie allerdings vom Klempner abgeschnitten werden, damit der neue Deckel wieder darauf gesetzt werden konnte. So wurden sie mit der Zeit immer kleiner.

Ich glaube, meine Mutter war nur zufrieden, wenn sie über genügend solcher Rohstoffe für die Ernährung ihrer Familie verfügte. Aber jeden Tag kam dann für sie die Zubereitung der Mahlzeiten. Fast keine der Zutaten war ja in einem Zustand, dass es sofort in den Topf geworfen werden konnte.

Gemüse musste geputzt, Kartoffeln geschält, Sauerkohl oder "Fitzebohnen" mussten schon am Tage vorher aus ihren Steinkrügen geholt werden. In Hameln, wie Hildesheim und später in Koblenz hatten wir einen Gasherd. Daneben aber gab es in jeder Küche einen Kohleherd, der gleichzeitig den Raum wärmte und heißes Wasser vorrätig hielt. Er war auch zum Backen unentbehrlich. Die Bereitung der Mahlzeiten war eine Arbeit, welche die Hausfrau mehrere Stunden am Tage in Anspruch nahm.

Ein sehr wichtiges weiteres Arbeitsgebiet der Hausfrau war die Sorge für alles, was mit der Wohnung zusammenhing: Die Fußböden bestanden entweder aus Holzdielen oder aus Linoleum oder aus Parkett. Grobere Holzdielen konnten feucht gewischt, feinere Arten wie Parkett und Linoleum mussten gebohnert werden. Zum Bohnern brauchte man einen schweren Bohnerbesen, der über die Flächen, die vorher mit Bohnerwachs eingerieben waren, viele Male hin und her gezogen wurden. Das kostete Kraft und Zeit. Die Teppiche mussten natürlich vorher zurückgeschlagen werden. Mehrere Male im Jahr wurden die Teppiche zusammengerollt und im Hof über eine Teppichstange gehängt. Dort wurden sie mit einem Ausklopfer solange geschlagen bis auch beim Bürsten kein Staub mehr sichtbar wurde. Die Möbeln, die Gardinen und Vorhänge wurden ebenfalls regelmäßig Reinigungsprozeduren unterzogen, die sehr spezifisch waren. Die Hausfrau musste wissen, wie sie jedes Stück zu behandeln hatte. Das gleiche galt auch für das Silber, besonders die Messer, die gerne den Geschmack von Fisch, besonders Hering, annahmen. Sie mussten daher sehr sorgfältig, aber nicht zu heiß gespült werden. Ein besonderes Kapitel war die große Wäsche, einmal im Monat. Dazu brauchte man die Waschküche, die in Miethäusern den Mietern nach bestimmtem Plan zugeordnet wurde. Zu dem Termin kam auch die Waschfrau. Schon am Tag vorher wurde die Wäsche eingeweicht. Am Waschtag selbst wurde in aller Frühe unter dem Waschkessel mit der Wäsche und der Waschlauge Feuer gemacht, damit die Wäsche kochen konnte. Die Waschfrau stellte sich dann die hölzernen Waschzuber auf einen Dreibock, tat sich einen Teil der kochend heißen Wäsche in den Zuber und begann Stück für Stück auf dem Waschbrett zu rubbeln. Dazu benutzte sie Kern- oder Schmierseife. Jedes Stück wurde ausgewrungen und in einen anderen Zuber mit klarem Wasser zum Spülen geworfen. So wurde nach und nach der ganze Waschkessel abgearbeitet.

Nach der Weißwäsche wurde in derselben Lauge noch die bunte Wäsche auf ähnliche Weise und ganz zuletzt in der nur mehr warmen Lauge die Strümpfe gewaschen. Der Spülvorgang erforderte mehrere Bütten voll klaren Wassers, das besonders im Winter oft eiskalt war. Für die Hausfrau und ihre Hilfskräfte war der Waschtag immer eine Tortur. Denn nun musste die Wäsche ja auch noch getrocknet werden. Im Sommer geschah das im Freien, im Winter auf dem Dachboden. Jedenfalls musste die nasse, schwere Wäsche an den Trockenplatz gebracht werden. War sie dann endlich trocken, so wurde sie gereckt und jedes Stück einzeln mit dem Bügeleisen gebügelt. Meiner Mutter Bügeleisen wurden auf dem Herd auf die notwendige Temperatur erhitzt. Dann wurden Sie auf die Wäsche gebracht und hin und her bewegt bis das Wäschestück ganz glatt war. Große Stücke wurden vorher noch gemangelt, Kragen und Manschetten der Herrenhemden gestärkt. Ich erzähle diese Arbeit meiner Mutter in meiner Kinderzeit hauptsächlich, um zu zeigen, dass Hausfrau zu sein damals ein Beruf war, der erhebliche Kenntnisse erforderte und daher gelernt werden musste. Die Darstellung ist nur sehr oberflächlich. Sie schildert eigentlich nur das, was ich als Kind sehen und erfahren konnte. Was merkte ich schon von den vielen anderen Pflichten einer Hausfrau, wie etwa die Anleitung der Dienstmädchen, die Ausrichtung von Einladungen, die Pflege der Kleidung, die Versorgung der Kranken, die Erziehung der Kinder und vieles mehr.

Vielleicht sollte hier aber noch angehängt werden, welche Mittel damals noch nicht zur Verfügung standen, die heute selbstverständlich sind. Es gab keinen elektrischen Kühlschrank, keinen Staubsauger, keinen Elektroherd, keine elektrische Küchenmaschine, keine Spülmaschine, keinen Föhn, keine Automatik, selten ein Telefon, kein Radio, normal kein Auto, aber auch keinen Pferdewagen. Erst ab 1926 hatten wir Fahrräder; das mag aber nur durch unsere Lebensumstände so gekommen sein, denn meine Eltern konnten beide radfahren. Es gab aber natürlich auch noch keine Kunststoffe, nicht einmal Kunstseide, kaum Chemie für Reinigung und Wäsche, schon gar nicht für Geschirrspülen. Man brauchte Soda, Seife und Putzsand. Es gab keinen nichtrostenden Stahl, keine Versiegelung von Holz, darum mussten Holzböden von Zeit zu Zeit mit Stahlwolle abgezogen werden.

Nach diesem Exkurs in die Arbeit und Verantwortung einer Hausfrau wie meine Mutter zurück nach Hameln. Dort gab es nämlich ein "Licht- und Luftbad". Das lag nicht weit von unserer Wohnung an der Weser. Etwa dort wo jetzt eine Jugendherberge auf dem Stadtplan eingezeichnet ist. Eigentlich war es ein großer eingezäunter Garten, der an die Weser lag. Er war ziemlich verwildert, hatte aber einige Sonnenplätze und einige Turngeräte für Kinder und Erwachsene. Im Sommer ging Mutter mit uns Kindern schon am Nachmittag dorthin, aber erst wenn Vater nach seinem Dienst auch dorthin kam, konnten wir in der Weser baden. Denn Mutter hat nie schwimmen gelernt und wir damals auch noch nicht. Die Flussufer fielen ziemlich steil ab, sodass von einem Wasserplanschen keine Rede sein konnte. Es gab dort aber ein Sprungbrett, von dem ein Schwimmer ins Wasser springen und sich mit der Strömung zu einem Landeplatz treiben lassen konnte. Das tat Vater manchmal und er nahm Wolfgang und mich manchmal auch abwechselnd mit. Wir mussten uns an seinem Hals festhalten, und er glitt dann beim Sprungbrett vorsichtig ins Wasser und überließ sich der Strömung. Mutter hatte wohl immer Angst, aber wir freuten uns.

Vater ließ uns auch von einem Tischler einen Roller machen, der allerdings ziemlich schwer ausfiel und darum zu unhandlich für ein Spielzeug. Von Hildesheim hatten wir ein Pferd mitgebracht. Das war auf einer Grundplatte mit Rädern montiert. Auch ein Sattel gehörte dazu. Jetzt war wenigstens ich schon so groß, um im Sattel sitzen zu können. Vater legte auch großen Wert auf die richtige Haltung. Er war ja schließlich als Einjähriger bei Feldartillerie gewesen. Aber ohne fremde Hilfe konnten wir auf dem Pferd nur sitzen, und das war langweilig. Das Pferd blieb ein Prunkstück.

Ich kann mich keiner Spielfreunde in Hameln erinnern, aber ich hatte welche, mit denen wir um das Haus und auf dem Holzplatz der Fabrik verstecken spielten. Wolfgang konnte da noch nicht immer mithalten und darum gab es oft Heulerei. Großes Geschrei meinerseits aber gab es zweimal, weil ich mich durch unseren Gitterzaun zwängen wollte und dabei abrutschte. Die "Lanzenspitze" unter mir bohrte sich in meinen Oberschenkel. Es blutete sehr. Mutter musste mich reinigen, verbinden und trösten. Die Narben habe ich behalten.

Auch Wolfgang hat in der Zeit einen Extragang gemacht. Er durfte schon allein im Vorgarten spielen. Dabei fand er unter den Steinen, mit denen die Wege begrenzt waren, Regenwürmer, die ihm offenbar gut schmeckten. Mutter erzählte das später oft mit einem gewissen Stolz auf ihren jüngeren Sohn, den sie gern zärtlich "Wölfituck" nannte.

Nach meiner Erinnerung brachten wir viel Spielzeit auf dem Holzlager der Fabrik zu. Dort lagen dicke Buchenstämmen und Bretter aufgestapelt. Zwischen den Stämmen gab es oft genug Platz, der uns zur Höhlenwohnung wurde. Aber wir fanden auch Stücke von Bandsägenblättern. Mit deren Hilfe sägten wir die Stämme an. Ich hatte damals schon manchmal Bedenken, ob das im Sinne der Firmenleitung sei. Aber wir wurden nie weggejagt. Darum blieben meine Bedenken nicht lange frisch.

Während der Hamelner Zeit war der politische Himmel in Deutschland mehr als dunkel, und das Land wurde von Turbulenzen verschiedener Art beunruhigt. Davon erfährt ein Kind natürlich noch nicht viel. Heute ist mir klar, dass mein Vater insofern politisch tätig war, als er im Hamelner Rheinländerverein mitmachte. Mutter unterstützte ihn. Es galt wohl eine möglichst breite öffentlich Meinung gegen die französischen Pläne für eine Abtrennung des Rheinlands vom Reich auf die Beine zu bringen. Der Kampf um das Rheinland prägte die folgenden Jahre der Familie noch sehr heftig.

Ein politisches Symbol, das später in Deutschland und in der Welt so eine verheerende Rolle spielen sollte, sah ich in Hameln zum ersten Male: das Hakenkreuz, von "Straßenjungens" an unsere Gartenmauer gekritzelt. Das war noch vor Hitlers Putschversuch 1923.

Vater machte in dieser Zeit sein Examen für die höhere Laufbahn als Reichsbankbeamter und leitete damit den weiteren Weg der Familie über Koblenz, Düsseldorf, Goch, Zittau, München, Elbing nach Hildesheim ein. Die Reichsbank hatte die Gepflogenheit, ihre Beamten bei jeder Beförderung an eine andere Stelle zu versetzen. So bedeutete jede der genannten Städte eine Stufe der Ausstiegsleiter.

Ich sollte nicht vergessen zu erwähnen, dass ich zu Ostern 1921 in der katholischen Volksschule zu Hameln eingeschult wurde. Allzu viel weiß ich nicht mehr von dieser ersten Schulzeit. Es war eine winzige Schule. Mehrere Klassen von Mädchen und Jungen wurden von einer Lehrerin zugleich unterrichtet. Und in der kleinen katholischen Pfarrkirche durfte ich mit den anderen Schulkindern ganz vorne knien, was ich erst nicht wollte, dann aber mit Stolz tat.

Auf der ersten Seite meiner Fibel stand ein Esel, ein Igel und ein Ei abgebildet. In dieser Reihenfolge lerne sich auch das "e", das "i" und dann das Wort "ei". In meinem Tornister hatte ich eine Schiefertafel, die Fibel und einen Griffelkasten. Am Rahmen der Tafel, die auf der einen Seite Zeilen und auf der anderen Karos zeigte, war mittels einer Schnur ein feuchtes Schwämmchen und ein trockener Lappen befestigt. Damit wurde die Tafel abgewischt.

Manchmal kam um unsere Ecke ein offenes Auto gefahren. Mir fiel auf, dass die Insassen ihre Arme nach der Seite heraus hielten. Mein Vater, nach dem Grund gefragt, meinte, die Leute wollten wissen, woher der Wind kam. Ob das sein Ernst war, weiß ich nicht. Auf die Idee, dass sie ihre Fahrtrichtung anzeigen wollten, kam ich nicht, weil auch niemand da war, den das hätte interessieren können. Aber das Auto war Bote einer neuen Zeit.

Ganz am Ende der Gröninger Straße zur Weser hin, wohnten zwei "alte Damen", von denen meine Eltern mit einem gewissen Respekt, vor ihrem Schicksal, sprachen. Dorthin wurde ich manchmal geschickt. Ich erinnere mich an weiter nichts, als an ihren würdevollen Anblick, an das villenähnliche Gebäude, in dem sie wohnten, und daran, dass ich sie nicht verstehen konnte, weil sie französisch sprachen. Vielleicht hatten sie Söhne und Männer im Krieg verloren und waren nun in Not.

Das Auto, die verarmten Frauen und das Hakenkreuz, erscheinen mir heute wie Zeichen einer Zeitenwende.

In Koblenz

Nach Koblenz zogen wir, glaube ich, im Sommer 1922. Ich war im zweiten Schuljahr und die Versetzungen waren damals immer Ostern. Unsere Wohnung war in der Kurfürstenstrasse ganz im Süden der Stadt. Das Grundstück lag einerseits an der Kurfürsten-, andererseits an der Mainzerstrasse und war an jeder Straßenseite mit einem großen Wohnhaus bebaut. Es gehörte einem Gärtner namens Watrinet, der zwischen diesen Häusern genug Raum fand, seine Gärtnerei zu betreiben, und in einem kleinen Häuschen mitten in seinem Betrieb zu wohnen. Auf der Gartenseite unseres Hauses lag zunächst die Bleiche, die durch eine Hecke eingefriedet war. Neben der Bleiche lag linkerhand das Waschhaus. Wir wohnten im zweiten Stock des Hauses, das im letzten Krieg wohl zerstört war und jetzt(1985) vollständig abgetragen ist. Unser Klo lag eine halbe Treppe tiefer. Aber die Wohnung war ziemlich groß.

Wenn ich mich recht erinnere, kam man durch die Etagentür auf die Mitte eines langen Flures. An ihm lagen links die Küche, das Kinderzimmer, und rechts ein Raum mit einer Badewanne und einem Badeofen und schließlich das Mädchenzimmer. Alle diese Räume hatten ihre Fenster nach hinten zur Gärtnerei. Die Zimmer der Vorderfront waren von links das Elternschlafzimmer, ein Fremdenzimmer, das Esszimmer, der Salon (ich kann mich nicht erinnern, dass diese beiden Räume je gebraucht worden seien) und das Schlafzimmer für Wolfgang und mich. Nach dem Einzug mussten sie erst noch tapeziert werden. Vater machte das, glaube ich, selbst. Jedenfalls weiß ich, dass er sehr viel Zeitungspapier als Untertapete geklebt hat. Darüber kam dann die richtige Obertapete, die aber noch gestrichen wurde. Ich weiß nicht, ob das aus Sparsamkeit geschah, oder weil es keine Tapeten gab. Die Inflation war ja schon im Gange. Jeden Tag stand in der Zeitung der Kurs des Dollars und dieser stieg ziemlich schnell.

Vom Umzug nach Koblenz habe ich keine Erinnerung mehr. Die neuen Eindrücke in der neuen Stadt haben die wohl so übertönt, dass nichts übrig geblieben ist.

Fräulein Lieschen war nicht mit uns gezogen, weil ihre Eltern sie nicht in die von den Weltkriegsfeinden besetzte Rheinzone lassen wollten. Elisabeth machte aber kaum die Windeln schmutzig, weil ihre Exkremente eher Knickern ähnlich waren als einem Stuhlgang. Aber Mutter hatte bald wieder ein "Mädchen". In meiner Erinnerung scheint sie mir recht welterfahren gewesen zu sein. Ich weiß noch, dass sie Stiefel trug, die, wie sie selbst erzählte, von amerikanischen Soldaten stammten. Elisabeths Windeln machten ihr wenig Arbeit, weil sie die einfach aus dem Fenster schüttelte. Wir hatten sie nicht lange. Vielleicht auch wegen dieses Schnellverfahrens. An eine Nachfolgerin kann ich mich nicht erinnern. Wir hatten aber eine, weil ich ganz sicher bin, dass Wolfgang und ich jeden Samstag in der Küche in einer Holzbütte von zwei Frauen gebadet wurden.

Ich kann nicht sagen, ob die Bevölkerung in Koblenz damals Hunger litt. Aber bestimmt gab es Mangel an vielen Dingen. Daran war die immer schneller werdende Inflation schuld. Die Amerikaner blieben nicht lange in Koblenz. Allgemein scheinen mir diese großen, schlanken Kerle mit den Khaki Breecheshosen und braunen Stiefeln bei den meisten Leuten nicht unbeliebt gewesen zu sein. Sie hatten Dollars und das machte sie reich. Unser "Mädchen" war jedenfalls sehr traurig, als sie verschwanden.

Nach ihnen kamen die Franzosen und das hatte auch Auswirkungen in meine Erlebniswelt. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft lag ein Villengrundstück, das ebenfalls von der Kurfürstenstraße zur Mainzerstraße durchging, aber viel breiter war als das, auf dem wir wohnten. Der Haupteingang lag dem Eingang zu den Rheinanlagen gegenüber an der Mainzerstraße. Dort stand ein Doppelposten unter Gewehr und mit aufgepflanztem Bajonett. Wenn Offiziere dort ein- und ausgingen, mussten die Soldaten präsentieren. Das machte uns immer viel Spaß. Der Hintereingang zu dem Grundstück lag direkt neben unserem Haus an der Kurfürstenstraße. Auch dort stand eine Wache, da hier wohl der Lieferantenverkehr abgewickelt wurde.

Auffällig war uns der Lärm der Militärlastwagen, mit denen auch Truppen transportiert wurden. Sie hatten eine Art Takelure, die von einem Beifahrer durch Drehen einer Kurbel bedient wurde. Jedenfalls machte sie einen wilden Lärm.

Die Ruhrbesetzung am 11.1.1923 hatte Auswirkungen bis in unsere Schule. Wir hatten viele Jungen, deren Väter Eisenbahner waren. Als wir aus den Oster(?)ferien wieder in die Schule kamen, fehlten die alle. "Ausgewiesen" hieß das Wort, das wir so kennen lernten. Die Eisenbahner hatten sich geweigert, so erfuhr ich später, für die französische Regiebahn zu arbeiten. So mussten sie das von den Franzosen besetzte Gebiet verlassen. Die Regiebahnen wurden auch von der Bevölkerung gemieden. Der Verkehr am Rhein entlang wurde fast ganz auf die Schiffe verlegt.

Obwohl so viele Kinder in der Schule fehlten, hatten wir nicht genug Platz, weil ein Teil der Schulräume für die Kinder der Besatzung beschlagnahmt waren. Ja, die Soldaten brachten Frauen und Kinder mit. Dafür brauchten sie Schulraum und wir mussten darum in manchen Stunden stehen.

Unser Lehrer war noch ein relativ junger Mann. Seine Lehrmethoden muss er aus einer viel älteren Zeit übernommen haben. Das betrifft nicht nur das Stöckchen, das er schmerzhaft handhabte, sondern auch seinen Unterricht in Turnen, Schönschreiben, Zeichnen, Diktat, Heimatkunde und erst recht in Kopfrechnen. All das brachte er uns mit viel Drill bei. Den Ausgleich holten wir uns am Rhein. Die Schule steht noch, wie mag es heute darin aussehen? Sicher ist das große Toilettengebäude auf dem Hof moderner und stinkt nicht mehr "wie Mainzer Käs". Die Schulbänke sind wohl auch nicht mehr da. Die Fußbodenbretter riechen kaum mehr nach ihrem Öl. Den Spucknapf für den Lehrer gibt es auch nicht mehr. Ob es aber den Klassenriecher noch gibt, der die Aufgabe hatte, den Schüler zu ermitteln, der sich gerade eines Windes entledigt hatte.

Echte Empörung vieler Leute ist mir in Erinnerung, als die Franzosen die neuen Häuser einer neuangelegten Straße noch vor deren Bezug für die Familien der Soldaten beschlagnahmten. Die Eisenbahner, für die sie bestimmt waren, wurden ausgewiesen. Die Leute erzählten immer wieder Anekdoten, die sich über die Unkenntnis der Franzosen im Umgang mit einem Wasserklosett amüsierten.

Wir Kinder hatten natürlich keine Ahnung von der Auseinandersetzung zwischen den Franzosen und den Deutschen. Ich erzähle nur das, was uns seinerzeit auffiel und in Erinnerung blieb. Dazu gehören die Pionierübungen auf dem Rheinarm zwischen der Insel Oberwerth und dem Ufer. Immer wieder sahen wir den Brückenschlag mit Pontons.

Wenn wir durch die Gärtnerei auf die Mainzerstraße gingen, brauchten wir die nur zu überqueren, dann waren wir schon am Eingang zu den Rheinanlagen, ein parkartiger Streifen zwischen den Villengrundstücken, die damals auch fast alle beschlagnahmt waren, und dem Fluss. Ein ideales Spielgelände für Jungen. Gebüsche zum Verstecken, Wasser, Kiesstrand, Wiesen. Dampfer, die Wellen machten, und manchmal gab es Hochwasser. Wenn das die Krone des Schutzdammes erreicht hatte, dann konnte das Spiel auch gefährlich werden. Einmal bin ich dort kopfüber ins Wasser gestürzt. Glücklicherweise tauchte ich dicht neben der Kaimauer wieder auf und konnte mich mit Hilfe meines Freundes Hans Grebel retten. Schwimmen habe ich erst viel später gelernt.

Aber Fische fangen konnten wir schon, Wolfgang und ich. Zur Zeit, wenn die Jungfische noch in der Nähe des Ufers schwammen, haben wir den einen oder anderen herausgeholt und mit vieler Mühe bis in die Gärtnerei gebracht, wo große Becken waren, in denen Gießwasser bereitgehalten wurde. Dort lebten sie dann noch eine Weile, bis sie an Nahrungsmangel eingingen. Bei schlechtem Wetter spielten wir oft in der Bäckerei Grebel. Die gibt es noch, wenn auch unter ganz anderem Namen. Hans Grebel, mein Schulkamerad, hatte Zinnsoldaten und vier längliche Backformen. Die waren unsere Pontons. So konnten wir es im Spiel so machen, wie die Franzosen am Rhein.

Wenn wir bei uns spielten, dann füllten die Bilder und Worte der Kriegsberichte unsere Köpfe. Wir hatten ein paar Sammelmappen mit Illustrierten von den verschiedenen Kriegsschauplätzen. Vorn drauf stürmten die Soldaten der Mittelmächte, Deutschland, Österreich, Bulgarien und der Türkei, dichtgedrängt unter einer gemeinsamen Fahne. Die Bilder im Inneren inspirierten uns, und wir bauten eine Art Weg oder Straße nach St. Quentin, Reims und Paris aus Bauklötzen.

Wir gehörten ja noch zu den kleinen im dritten Schuljahr, die während der großen Pause noch zur Schulspeisung geführt wurden. Am Josefsplatz lag ein von Schwestern geführtes Heim. Dort gab es ein großes Brötchen und ein Schale mit Kakao. Religion hatten wir bei einem Kaplan der St. Josefskirche. Er bereitete uns sorgfältig auf unsere erste Beichte vor. Allerdings hauptsächlich auf einen geregelten Ablauf, einschließlich Gewissenserforschung nach Beichtspiegel. Ich war nach dem ersten Mal sehr erleichtert.

Eine wichtige Person war in Koblenz mein Vater. In der Schule habe ich als seinen Beruf Geldzähler angegeben. Das war in meinen Augen und in denen meiner Mitschüler etwas ganz Tolles. Er wird wohl tatsächlich Kassierer gewesen sein. Jedenfalls gehörte er zu den fünf Beamten, die eines Tages von den Franzosen verhaftet und in der Kaserne im Vorort Lützel jenseits der Mosel eingesperrt wurde. Vater hat mir später erzählt, über die Reichsbankstelle in Koblenz sei der Zahlungsverkehr für die Aktivisten des "Passiven Widerstand" gegen die Ruhrbesetzung durch die Franzosen gelaufen. Nach ein paar Wochen, war Vater wieder da. Die Bank arbeitete weiter. Aber wieder einige Zeit später holten sie Vater morgens früh aus dem Bett und nahmen ihn wieder mit. Mutter folgte dem Kommando und konnte beobachten, dass auch noch andere Beamte verhaftet wurden. Diesmal brachten sie ihn nach Bonn. Mutter und ich haben ihn dort einmal besuchen dürfen. Es ist nach der gleiche Bau, wie er heute hinter dem Gerichtsgebäude steht. Die Fahrt auf dem Schiff dauerte acht oder neun Stunden. Hin wie zurück.

Als Vater nach etwa einem Vierteljahr wiederkam, war er vollkommen kahl. Diese Frisur hat er mehrere Jahre beibehalten. Der Anlass waren wohl Läuse, denn die Hygiene in Bonn muss sehr gering gewesen sein. Aber warum er sich noch so lange jeden Morgen den ganzen Kopf mit einem Rasiermesser, nicht etwa mit einen Rasierapparat, kahlrasiert hat, weiß ich nicht. Ein weiteres Mal ist Vater den Franzosen entschlüpft, als er in Trier verhaftet werden sollte. Er vermied die Fahrt mit der Bahn oder Schiff, kaufte sich ein Fahrrad und kam damit wohlbehalten in Koblenz an. Vermutlich ist er dann mit dem Schiff nach Köln, wo die Koblenzer im Dachgeschoß der Reichsbankstelle Köln ihren Betrieb wieder aufnahmen. Die Engländer haben das zweifellos gedeckt. Sie waren politisch gegen das Vorgehen der Franzosen im Ruhrgebiet.

Trotz der kurzen Zeit überhaupt, die wir in Koblenz wohnten, und trotz der Schwierigkeiten des Reisens hatten wir Besuch, an den ich mich erinnern kann:

Onkel Josef Schlote, Mutters Schwager, der uns als Kostbarkeit eine Apfelsine mitbrachte. Sie wurde feierlich geschält, auseinander geteilt, und mit Zucker bestreut. Ob wir sie auch gegessen haben, weiß ich nicht. Ich sehe sie nur im Küchenschrank auf einem Tellerchen liegen.

Tante Paula Perlia, Vaters Halbschwester und Wolfgangs Patentante, bei der er und ich Unterkunft fanden, als Mutter fürchten musste, dass wir ausgewiesen würden, weil Vater zum zweiten Mal verhaftet war. Sie war immer sehr spendabel, besonders ihrem Patenkind gegenüber.

Großmutter Lenz, (Mutters Mutter) natürlich, die von Vater immer mit einer Flasche "Weihwasser" (Kognak) in ihrem Nachtskommödchen versorgt wurde.

Großmutter Herwartz, Vaters Mutter, die geborene Koblenzerin, die auch ihre noch lebende Anverwandschaft besuchte. Eine Tante Rösgen, ein Onkel Udo und von einem Oberst war die Rede. Sie wohnten in der Schloßstraße oder im Markenbildchenweg. Vaters Großvater, Anton Osterhaus, war in Koblenz Festungsbaumeister gewesen und als solcher beteiligt am Ausbau der Befestigungsanlagen, deren Rückgrat Ehrenbreitstein bildete. Die Anlagen sind nie einer Probe ausgesetzt gewesen. Die Großmutter Osterhaus war eine geborene Rösgen. Sie soll gute Beziehungen zu den drei "Weibern" des Schlosses gehabt haben, auf die Bismarck so böse war, weil sie gegen seine Politik intrigierten. Diese Beziehung könnte es gewesen sein, durch die es möglich wurde, dass die Familie Osterhaus am Schloßrondell, Ecke Schloßstrasse, für sich ein schönes und großes Haus bauen konnte. Im zweiten Weltkrieg wurde es zerstört. Auf dem Grundstück steht heute die Landeszentralbank.

Zur Erinnerung: die Portraits des Ehepaares Osterhaus hängen in unserem Wohnzimmer.

Ein weiterer Besuch bei uns in Koblenz war Oskar Pott, wenig Älter als ich und ebenfalls Urenkel von Anton Osterhaus. Von ihm lernte ich einige Automarken. NSU, das weiß ich noch, hatte damals ein weißes Lenkrad. Außerdem erfuhr ich von ihm, dass es Autos mit einem "leisen Motor" gab. Wir sahen sie zu den Villen der prominenten Franzosen an den Rheinanlagen fahren. Die ersten Schalldämpfer offenbar. Alles andere wenige, was sich auf den Straßen bewegte, knatterte laut und vernehmlich. Meine Eltern waren anscheinend ziemlich unternehmungslustig und leistungsfähig. An Krankheit wie in Hildesheim und auch noch in Hameln erinnere ich mich nicht. Vieles, was wir zu Fuß von Koblenz aus erreichen konnten, haben wir gemeinsam oder haben die Eltern allein besucht. Nach Burg Stolzenfels über den Rittersturz und zurück auf der Straße. Dabei sahen wir einmal einen ganzen Güterzug entgleist liegen, ein Resultat der Arbeit der Aktivisten des "passiven Widerstandes". Nach Winnigen, nach Arenberg, mit dem Schiff zur Marksburg, nach Maria Laach (dorthin sind sie ohne uns gelaufen).

Mehrfach mussten wir, um etwas zu holen, was es nur dort gab, über die Eisenbahnbrücke nach Horchheim. Auf dem schmalen Fußsteig, der neben den Gleisen herlief, stand immer ein schwarzer Soldat Posten. Vor dem hatten wir Angst. Vielleicht kontrollierte er die Sachen, die wir mitbrachten, oder wir fürchteten das. Auch auf der Brücke sah ich einmal einen entgleisten Zug liegen.

Wenn ich in mein Geschichtsbuch sehe, dann erfahre ich, dass die Inflation Ende 1923 durch eine Währungsreform beendet wurde. Es kommt mir aber so vor, als wenn die etwa mit unserem Umzug nach Düsseldorf zusammenfiel, der aber war erst Frühjahr 1924. Möglicherweise galt die neue Reichsmark in den von den Franzosen besetzten Gebieten noch nicht.

Noch nachzutragen wäre, dass ich mir zu Weihnachten 1923 das Buch "Robinsohn Kruso" gewünscht habe. Das Christkind, an das ich damals fest glaubte, ja sogar für einen Gottesbeweis hielt, verbesserte meinen Wunsch in einen wunderschönen Band Robinson Crusoe.

Mit einem Jungen, der im Haus gerade gegenüber wohnte, baute ich eine Seilbahn über die Straße. Als sie betriebsfertig war, kam ein Polizist und verfügte ihre Entfernung, da nur die Post das Privileg habe, Drähte über die Straße zu spannen.

Als Vater zum zweiten Mal ins Gefängnis kam, fürchtete Mutter für uns alle die Ausweisung. Damit wenigstens Wolfgang und ich schon einmal aus dem Wege waren, schickte sie uns nach Köln. Sie bat deshalb einen Herrn, der zufällig die gleiche Strecke fuhr, uns mitzunehmen. Auf dem Schiff versteht sich. Trotz der Fahrt mit dem Strom brauchten wir 12 Stunden. Unser Schiff musste an jedem Anleger gegen den Strom festmachen. Und an jedem Anleger gingen unzählige Pakete und Gepäckstücke von und an Bord. Dafür waren weder Schiffe noch Anleger eingerichtet. Zudem hatten die Franzosen, der besseren Kontrolle wegen, breite Stacheldrahthindernisse mit nur schmalen Durchlässen gebaut, durch die Gepäck wie Passagiere nur nacheinander hindurch kommen konnten. Die Pakete wurden dabei in einer Menschenkette von Mann zu Mann geworfen. In Köln wohnten wir bei Tante Paula Perlia, die ein wunderschönes und großes Haus führten. Darin befand sich im ersten Stock ein Bad mit einer in den Boden eingelassenen Badewanne. Wir wurden übrigens von der Tochter Edith wahrgenommen, die einen privaten Kindergarten betrieb.

Noch etwas: In Koblenz gab es damals drei Rheinbrücken. Die schon erwähnte Horchheimer Brücke, In Höhe des Schlosses die Pfaffendorfer Brücke, über die Straßenverkehr lief, und noch weiter abwärts die Schiffbrücke. Das war eine schwere Pontonbrücke für den Straßenverkehr nach Ehrenbreitstein und Neuwied. Sie hatte den Nachteil, dass sie immer ausgefahren und darum gesperrt werden musste, wenn Schiffe auf dem Rhein passieren sollten. Das konnte bei Lastzügen rheinaufwärts ziemlich lange dauern. Zwischen einigen Pontons waren eiserne Badekörbe eingehängt, durch die das Wasser heftig strömte und den Badenden massierte. Ich war einmal mit Mutter darin.

Der Schiffsverkehr auf dem Rhein war damals ganz anders als heute: Allerdings fuhr die Weiße Flotte damals wie heute. Nur waren alle Schiffe dampfgetrieben und hatten Schaufelräder. Der Lastverkehr wurde fast ausschließlich durch Schlepper ermöglicht. Davon gab es zwei Typen, beide waren dampfgetrieben: Ein kleines Schiff, dass die Dampfkraft auf einen Propeller übertrug. Das konnte meistens nur einen Lastkahn stromaufwärts ziehen. Außerdem macht es kaum Wellen. Darum fanden wir es unbedeutend. Der andere Typ war ein großes Schiff mit zwei Schornsteinen, die unter Brücken immer abgekippt werden mussten. Die Dampfmaschine übertrug ihre Energie auf Schaufelräder. Darum machte dieser Typ viel mehr Wellen, und er konnte auch bis zu fünf Lastkähne stromauf ziehen. Natürlich brauchte jeder Lastzug eine geraume Zeit ehe er Stromauf die Schiffbrücke passiert hatte.

Wir trugen damals kurze Stoffhosen und lange schwarze oder braune Strümpfe, die mit Gummibändern an ein "Leibchen" geknöpft wurden. Dieses Leibchen häkelte meine Mutter selbst. Es saß fest wie ein Panzerhemd und macht große Schwierigkeiten beim An- und Ausziehen. Darunter zogen wir nur ein langes Hemd aber keine Unterhose. Die Strümpfe waren eine ständige Arbeitsbeschaffung für Mutter, weil sie auf den Knien immer schnell kaputt waren. An den Füssen hatten wir Schnürschuhe. Oben hatten wir wohl Blusen an. Im Winter darüber eine Jacke und einen Mantel.

Als wir in Koblenz wohnten, wurde das Weindörfchen am Rhein nahe der Pfaffendorfer Brücke gebaut. Es war wohl als Werbung für den Rheinwein gedacht, aber auch ein Ort, wo politisch interessierte Leute die Köpfe zusammenstecken konnten. Meine Eltern waren oft dort. Mutter hatte sich sosehr an den Wein gewöhnt, dass sie ganz unglücklich war, weil das in Düsseldorf aufhören sollte. Sie hat den Schmerz mit dortigem Altbier schnell vertreiben können.

Zu unserer Zeit wurde die Fronleichnamsprozession zum ersten Male nicht von der Koblenzer Hauptkirche St. Castor ausgerichtet, sondern von St. Josef. Ich erinnere mich, dass die Frauen der Gemeinde viele Meter Girlanden anfertigen mussten, weil allein vier vom Balkon des Turmes bis zu den gegenüberliegenden Häusern gehängt wurden. Dazu kam eine Unmenge Fähnchen, die den Prozessionsweg schmückten. Nach dem Hochamt im Freien vor dem Portal der Kirche entwickelte sich der Zug in Richtung Stadt zwischen den von den Franzosen beschlagnahmten Häusern der Einsenbahner hindurch. Dabei bemerkten die Teilnehmer ein deutlich zur Schau getragenes Desinteresse, wenn nicht gar Feindseligkeit der Franzosen, die statt Blumenschmuck ihre Betten in die Fenster legten. Die Prozession bewegte sich durch die Straßen der Stadt zu allen vier Pfarrkirchen. Ich bin sicher, dass ich sehr wehe Füße hatte als wir wieder zu Hause waren.

In Düsseldorf

Unser Umzug von Koblenz nach Düsseldorf war im Herbst 1924. Mutter war bestimmt froh, dass sie aus dem französisch besetzten Koblenz herauskam, obwohl sie offenbar Sorge hatte, weil sie den gewohnten Wein gegen Bier tauschen musste.

Düsseldorf war gerade frei geworden. Die Besatzungstruppen hatten die Stadt über die Rheinbrücke verlassen und sind dann wohl bald weiter nach Westen gezogen. Mutter war empört, weil der letzte Soldat genau um Mitternacht die Rheinmitte passierte. Aber damit war der "Ruhrkampf" endgültig begraben. Die von außen kommende Erleichterung Mutters war allerdings von anderen, näher liegenden Sorgen überschattet. Der Umzug war allein ihre Sache gewesen. weil Vater schon einige Zeit seinen Dienst in Düsseldorf versehen musste, und ein Hin- und Herfahren schwierig war wegen der Franzosen

Darum hatte sie erst mal uns beiden Jungs aus dem Wege geräumt, indem sie uns nach Köln zu den Tanten Paula Perlia und Margot Court schickte. Dann hatte sie mit den Umzugsmännern den Hausrat in die Möbelwagen geladen. Die kleine Elisabeth war dabei sicherlich keine Hilfe. Natürlich waren die Wagen nicht motorisiert, sondern wurden von Pferden zum Güterbahnhof gezogen, damit sie auf einen Plattenwagen der Deutschen Reichsbahn geladen werden konnten. Auf der Fahrt brach eine der Achsen oder eines der hölzernen Räder. So mussten die Möbel aus dem lädierten Wagen in einen intakten umgeladen werden. Mutter jammerte lange wegen der Schäden und Verluste, die dabei entstanden waren. Da sie die beim Einzug in Düsseldorf natürlich nicht sofort genau übersehen konnte, wurden sie auch von der Versicherung nicht voll ausgeglichen.

Für uns Jungens war Düsseldorf natürlich sehr aufregend. Wir wohnten auf dem Hindenburgwall, schräg gegenüber dem Ratinger Tor. Wenn wir aus dem Fenster schauten, staunten wir über die ungewohnt vielen Autos und Straßenbahnen, die unten auf der Straße vorbeifuhren. Nach links fuhren sie über die damals einzige Rheinbrücke nach Oberkassel und weiter nach Neuss, Ürdingen und Krefeld. In der Gegenrichtung in die Stadt.

Die bot auch für uns viele Überraschungen. Besonders der erste deutsche Wolkenkratzer, das Wilhelm-Marx-Haus! Das roch nach Amerika. Man konnte mit dem Aufzug bis zum Dach fahren und von dort oben über den Rhein nach Oberkassel schauen. Und dann hatte der Tietz es uns angetan. Es war ja kurz vor Weihnachten 1924. Die Währungsreform war eben gewesen. Wir hatten die "Reichsmark". Je eine von der hatte eine Billion der bisherigen Mark ersetzt und dabei unzählige Rentner und Sparer endgültig in die Armut gestürzt. Auch meine beiderseitigen Großeltern. Doch das Kaufhaus "Tietz" hatte eine Weihnachtsdekoration, die wir immer wieder ansehen mussten. Auf die nahe "Kö" kamen wir nicht so oft. Dort gab es eine Sensation für uns Kinder: Ein Delikatessengeschäft hatte im Schaufenster Äpfel, auf denen kleine Bilder zu sehen waren, die die Sonne darauf gezeichnet hatte. Geld hatten wir natürlich nie in der Hand. Wir haben es nicht entbehrt. Erst als ich aufs Gymnasium kam, gab Vater mir eine Reichsmark, damit ich im "Notfall" etwas hätte. Von der kaufte ich mir einmal ein Eis für 10 Pfennige und hatte ein schlechtes Gewissen. Mutter gab mir stillschweigend die Absolution und tauschte mir die restlichen 90 Pfennige gegen ein Einemarkstück.

Doch ich greife der Zeit voraus. Den ersten Eindruck in Düsseldorf brachte uns und vor allem meiner Mutter eine Einladung bei einer Kollegenfrau, die zwei Stock über uns in dem Beamtenwohnhaus neben der Reichsbank wohnte. Ich glaube sie hieß Brusatis. Auf jeden Fall aber war sie mit ihrer Familie bis Kriegsende 1918 in Afrika gewesen, in der bis dahin deutschen Kolonie "Deutsch-Südwest", dem heutigen Namibia. Darum hingen auch an den Wänden Jagdtrophäen, die uns besonders fesselten. Der Kaffeetisch war herrlich gedeckt. Das Unglück kam aber schnell: Unsere noch dreijährige Elisabeth verschüttete ihren Kakao über die blütenweiße Tischdecke. Mutters Verlegenheit und Aufregung kann ich heute besser verstehen als damals.

In den ersten Tagen in Düsseldorf kam unsere Tante Klara aus Marburg zu Mutters Unterstützung angereist. Für Wolfgang und mich hatte das unmittelbare und deutliche Folgen. Sie war nämlich der Meinung, die für uns zuständige Katholische Volksschule der Lambertigemeinde sei für uns, als Söhne des Kassenvorstandes der Reichsbankstelle in Düsseldorf, nicht das richtige Bildunginstitut. Mutter hatte schon auf unserem ersten Gang zur Sonntagsmesse in St. Lambertus 32 Kneipen gezählt. Heute sind die immer noch da, allerdings wesentlich teurer an der "Längsten Theke der Welt".

Tante Klara und Mutter gingen also auf die Suche nach einer Volksschule, die unsere Erziehung besser gewährleisten konnte. als die in der Altstadt. Sie wurden fündig und wir gingen für eine kurze Zeit in eine Schule in der Nähe der Schadowstraße. Die war zwar ein alter Kasten aber so vornehm, dass sie nur Schüler bis zum vierten Schuljahr hatte. Danach gingen alle auf höhere Schulen. Wir beide aber gingen schon nach wenigen Tagen an der Hand eines Polizisten in die Altstadtschule. Das gab eine Aufregung zuhause! Aber der Rektor der Schule blieb hart. Auch er wolle einmal einen Schüler auf das Gymnasium vorbereiten, gab er meiner Mutter seine Motive preis. Er hat sich sehr darum bemüht, dass ich die damals vorgeschriebene Aufnahmeprüfung für das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium bestand

Tante Klara hat diesen Sturz in die Unkultur der Düsseldorfer Altstadt nicht mehr mitbekommen, weil sie schon wieder in Marburg war. Mir hat die Zeit auf dieser Volksschule viel gegeben. Nicht nur, dass ich dort am Weißen Sonntag 1925 zur Erstkommunion ging. Der Organist und Chorleiter von St Lambertus, Herr Zaun, entdeckte mich auf einer Bötchenfahrt nach Zons, dem alten Römerlager am Rhein, für den Knabenchor, in dem ich dann fast bis Ostern 1926 gesungen habe. Nicht nur das gregorianische Hochamt, sondern als Höhepunkt eines Pfarrjubiläums die vielstimmige Missa Papa Marcelli von Palestrina. Die aber nicht nur im Festgottesdienst, sondern auch am Abend in der Düsseldorfer Tonhalle. Dort allerdings nur das Gloria und mit großem Orchester und einer Damenverstärkung in Sopran und Alt. Das aber kam erst im Winter 1925/26. Vorerst ging ich in die Sexta des Gymnasiums. Das lag an der berühmten Kö, aber auf der anderen Seite des Wassergrabens. Dort lernte ich Latein und Deutsch und Rechnen und Religion. Jeden Sonntag ging die ganze Schule, natürlich ohne die sehr wenigen nicht katholischen Schüler, in die barocke Andreaskirche. Die liegt auch in der Altstadt. Weil sie aber zu klein war, alle Schüler in den Bänken aufzunehmen, mussten die unteren Klassen im Mittelgang stehen. Von dieser Schulmesse um 0900 Uhr wurde ich nicht dispensiert, obwohl Vater darum bat, weil ich doch um 10 Uhr in der Lambertuskirche singen musste. Der Direktor erlaubte mir nur die Teilnahme in der letzten Reihe und ein etwas verfrühtes Weggehen vor dem letzten Segen. So flitzte ich denn jeden Sonntag den kurzen Weg zur Lambertuskirche und kletterte mit einer kleinen Verspätung die Wendeltreppe zur Orgelbühne hinauf, während die Männer schon den Introitus sangen. Zum Kyrie, das die Knaben mit-singen mussten, war ich dann da. In der Andreaskirche wurde ich auch gefirmt. Die Firmung durch einen Kölner Weihbischof wurde vom Gymnasium vorbereitet und organisiert. Der Direktor war der Firmpate für alle Firmlinge. Das wäre doch heute undenkbar. Wie sich die Zeiten geändert haben!

Weihnachten kaufte Vater eine ganze Kiste Apfelsinen. Diese Frucht hatten wir in Koblenz einmal schon geschenkt bekommen. Eine für uns beide. Sie wurde ganz feierlich geschält, mit Zucker bestreut und geteilt. Jetzt, auch eine Folge der Währungsreform, hatten wir so viele, dass wir uns mit ihnen vollstopften. In der Nacht gaben wir Kinder alles wieder von uns. Mutter musste die Betten neu beziehen. Vater stand in der Zimmertür und sang ein Weihnachtslied. Mutter war nicht böse auf ihn, aber sie teilte uns die Früchte in Zukunft zu.

Vater musste als Kassenvorstand auch die organisatorischen Änderungen leiten, die durch die Einführung der Reichsmark erforderlich oder möglich wurden. Man braucht sich ja nur vorzustellen, dass allein die vielen Geldscheine, die in der Inflationszeit notwendig gewesen waren und sich von Monat zu Monat geändert hatten, viel fast ausschließlich weibliches Personal erfordert hatten. Es gab ja noch keine Geldzählmaschinen. Nicht einmal für Münzen. Dieses nun nicht mehr benötigte Personal musste nun nach und nach entlassen werden.

Eine dieser Frauen war Fräulein Rudloff, die nun auf der Straße stand. Ich glaube, auch sie war aus Afrika nach Düsseldorf verschlagen war, Meine Eltern haben sich sehr um sie gekümmert.

In den einzigen Sommerferien in Düsseldorf begleitete sie Mutter und uns oft nach Oberkassel an den freien Rheinstrand, oberhalb der Badeanstalt, wo wir uns alle, aber ich am meisten, einen bösen Sonnenbrand holten. Sie fuhr auch mit uns Jungen nach Ohligs, wo wir damals noch auf einem riesigen, öden und wässerigen Grundstück spielen und Molche fangen konnten. Zwei oder drei dieser wie kleinen Drachen aussehenden Tierchen nahmen wir mit nach Hause und taten sie in ein Terrarium. Wir fütterten sie mit Fliegen. Aber natürlich gingen sie sehr schnell ein. Mutter besuchte Fräulein Rudloff auch in ihrer Wohnung, und später kam die auf Einladung auch zu uns nach Goch.

Spielen konnten wir auch auf dem Hinterhof der Reichsbank. Allerdings machten wir uns bei den Beamten unbeliebt als wir Dachpappenfetzen verbrannten. Den Qualm fanden sie nicht gut. Der Hof hatte zur Straße hin eine hohe Mauer und ein großes eisernes Tor, durch das die Geldtransportwagen ungefährdet ein- und ausfahren konnten. Eines Tages hörten wir auf der Straßenseite einen Lärm von Kindern. Als wir auf die Mauer geklettert waren, um nach dem Rechten zu sehen, erkannten wir, dass wir den Eingang zur Bank dringend verteidigen mussten. Wir taten das und warfen Holzstücke und Steinchen auf die "Angreifer". Die zogen sich sofort zurück, kamen aber in großer Zahl wieder und bewarfen uns mit Eiern und Tomaten, die sie wohl auf dem Markt, der täglich rund um den "Jan Wellem" stattfand, geklaut hatten. Der Kampf wurde durch den Hausmeister entschieden, der uns aus unserer Stellung zurückholte.

Einen Freund hatte ich auch. Er wohnte in der Ratinger Straße. Seine Großmutter hatte einen "Appelkram" auf dem Hindenburgwall. Von seinem Vater erzählte er einmal, dass der alle Kochtöpfe zerschlagen habe, weil seine Frau darin Pferdefleisch gebraten habe.

Oft aber mussten wir auch in der Wohnung am Fenster sitzen und auf den Hindenburgwall gucken. Wir machten dann Strichlisten und zählten, wieviel Straßenbahnen mit einem oder zwei Anhängern oder ohne vorbeifuhren. Besondere Freude bereitete uns jedes Mal die Bahn, die mit einem Speisewagen nach Krefeld fuhr. Auf die Straße selbst aber durften wir nur auf dem Schulweg. Allerdings trainierte mich Vater auch schon für die technische Zeit, die vor mir lag, indem er mir beibrachte, wie man aus einer Straßenbahn abspringt, wenn diese bei gedrosselter Fahrt um die Ecke fährt. Die Wagen der Bahnen hatten damals eine Art offener "Balkone", von denen man gut abspringen konnte.

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich in Düsseldorf Sahnetorte gegessen. Wir holten sie aus einer kleinen Konditorei in der Ratinger Straße. Dort gab es eine Sahnetorte, die mit Apfelsinen gewürzt und verziert war. Die schien mir ein Wunder.

Wunder konnte man auch im Planetarium sehen und in der Ausstellung Jagd und Wild im Ausstellungsbereich in dem später die "Gesolei" war. Für diese größere Ausstellung musste schon Platz geschaffen werden. Darum mussten auch zwei hohe Säulen beseitigt werden. Dazu musste man sie sprengen. Das war offenbar nicht leicht, wie ich vermute, weil ein Versuch an einer Säule, bei dem ich zugucken konnte, völlig wirkungslos blieb. Später sah ich dann, dass die Säulen überhaupt Röhren waren.

Kurz vor Ostern 1926 zogen wir nach Goch am Niederrhein, wo Vater Vorstandsbeamter der kleinen Zweigstelle der Reichsbank wurde. Ich bekam ein Abgangszeugnis mit dem Versetzungsvermerk und hielt es deshalb für sehr ungerecht, dass ich in Goch noch zur Schule gehen musste. Dort in der Sexta sah ich zum ersten und einzigen Mal und gleich am ersten Tag, wie ein Schüler von einem Lehrer verprügelt wurde. Es war eine regelrechte Exekution mit einem Rohrstock auf den Hintern. Ja, mal ein bisschen auf die Hand, das gab es auch in Koblenz, aber so wie hier in Goch!

In Goch

In Goch wohnten wir von Frühjahr 1926 bis Sommer 1931 gut fünf Jahre, eine Zeit, in der viel geschehen konnte, und mit der ich daher auch eine Menge bunter Erinnerungen verbinden kann. Ich war noch Sextaner, also in der ersten Klasse des Gymnasiums, der heutigen Oberschule. Mit dem Versetzungszeugnis des Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Düsseldorf zur Quinta in der Tasche empfand ich mich als Gast unter meinen Mitschülern, die ihre Versetzung noch vor sich hatten. Der Unterschied zwischen der "Volksschule" und dem Gymnasium bestand für mich. außer dem Latein, hauptsächlich darin, dass es im Gymnasium keine Prügelstrafe gab, von der auf der Volksschule noch Gebrauch gemacht wurde. So kann man meine Überraschung verstehen, als ich am ersten Tage in Goch erleben musste, wie ein Mitschüler wegen irgendeiner Verfehlung vom Klassenlehrer, dem Studienrat Schmitz, in der Lateinstunde über die vorderste Bank gelegt und mit dem Rohrstock ziemlich heftig verprügelt wurde. Es war übrigens der "dünne" Schmitz. Wir hatten auch einen "Dicken". Die beiden wohnten Haus an Haus in der Kalkarer Straße. Außer den beiden gab es auch noch einen "Roten" oder "Rojen", wie wir auf Platt sagten. Der war unser Kaplan und gab Religion. Die Schule, in der ich also in Goch begann, war ein Realprogymnasium, das bedeutete, dass die "Studenten", so nannte man uns, nur das "Einjährige" erlangen konnten, wenn sie die Abschlussprüfung nach der Untersekunda, der heutigen zehnten Klasse, bestanden.

Der Ausdruck "Einjähriges" für diesen Schulabschluss, der heutigen "Mittleren Reife", war damals schon Überholt. Er stammte aus der Kaiserzeit. Junge Männer mit diesem Schulabschluss hatten die Wahl, ihren Militärdienst in einem Jahr abzuleisten, oder wie die andren in drei Jahren. Für manche war diese Wahl nicht so leicht, denn der Einjährige musste die Kosten für Unterkunft, Verpflegung, Uniform und manche Waffen selbst tragen. Das konnte, je nach Regiment, in das man eintrat, eine teure Sache sein. Der Vorteil war aber, dass man nach einem Jahr entlassen und nach einer weiteren Übung Leutnant wurde, während die Dreijährigen nicht einmal Unteroffiziere waren. Im Jahre 1926, das eben angefangen hatte, als wir nach Goch zogen, gab es weder eine dreijährige, noch eine einjährige Dienstzeit. Deutschland hatte ein Berufsheer, in dem Mannschaften 12 Jahre dienten und es während der Zeit bis zum Oberfeldwebel bringen konnten. Für die Offizierslaufbahn war das Abitur Voraussetzung, und es gab vom ersten Tag an Gehalt und Kleidergeld. Das verbilligte Essen im Offiziersheim musste der Offizier allerdings selbst bezahlen. Die Dienstzeit betrug für die Offiziere 25 Jahre. Für eine Weiterverwendung spielte die gezeigte Leistung und die Gesamtlage eine Rolle.

Zurück zur Schule. Die lag ziemlich weit außerhalb der Stadt an der Asperdener Straße. Sie bestand aus zwei Zeilen von einstöckigen sehr einfachen Einfamilienhäusern. In jedem Haus war eine Klasse unterbracht, nachdem man sie innen so umgebaut hatte, dass in jeder Zeile ein Gang an der Vorderseite die hinten liegenden Klassenzimmer verband. In der ersten Zeile lag außer den Klassen auch das Lehrer- und das Rektorzimmer. In der zweiten Zeile war auch noch ein Raum für Musikunterricht und, wie ich jetzt annehme, ein Raum für "Naturwissenschaften" oder "Zeichnen".

Zwischen den beiden Hauszeilen war ein Durchgang zu einem Klo-Häuschen und einem Fußballplatz, der zugleich unser Pausenhof war. Auf dem machten wir unsere Freiübungen im Turnunterricht. Zum Geräteturnen mussten wir erst einmal einen Marsch in geschlossener Ordnung und Gleichschritt mit Gesang zum "Gesellenhaus" machen, wo es einen Turnsaal mit Reck, Pferd, Bock und vielleicht Kletterstangen gab. Auf dem Hin- und Rückmarsch sangen wir: "Der mächtigste König im Luftrevier...." An ein anderes Lied kann ich mich nicht erinnern.

Von den Lehrern habe ich, außer den drei Schmitzen, nur noch drei in Erinnerung. Einer hieß mit Spitznamen "de Klött", ein gocher Ausdruck, der Spatz bedeutet. Sein bürgerlicher Name war Bourgeois. Er war ein schrulliger Junggeselle, der das Pensum in Rechnen und Naturkunde seinen Schülern nur schwer vermitteln konnte. In seinem Unterricht machten die Jungs, was sie wollten. Einmal zogen sie ihm gar das Hemd aus der löcherigen Hose und schmierten Tinte darauf. Dabei fällt mir ein, dass damals an jedem Schülerplatz in den ziemlich rauen, mit vielen Schnitzereien versehenen Bänken ein Tintenfass war. Wir schrieben ja nur mit einfachen Federhaltern und nicht mit Füllern. Mir fällt weiter ein, dass es natürlich nur Jungen auf der "Penne" gab. Ich wusste nicht mal, ob es eine vergleichbare Mädchenschule überhaupt gab. Erst als wir längst in Zittau wohnten, erreichte uns die Nachricht von der Einweihung eines "Schulzentrums", wie man heute sagen würde, mit auch einer Mädchenmittelschule. In dem Musikraum übte der zweite Lehrer, an den ich mich erinnere, ohne seinen Namen noch zu wissen, immer wieder nur Beethovens "Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre". Ich glaube, er wollte damit irgendwo, irgendwann auftreten. Aber dazu kam es in meiner Quintazeit nicht. Ob später? Ich glaube Deutsch hatten wir bei Studienrat Keller, dem dritten Lehrer, dessen ich mich erinnere. Er wohnte in der Brückenstraße uns schräg gegenüber. Irgendwie imponierte er mir. Jetzt noch steht vor mir seine straffe, klare Persönlichkeit, die wir alle respektierten, vor Augen.

An vier Mitschüler kann ich mich noch erinnern.

Einer hieß Van de Loo und stammte aus der Wassermühle in Asperden, die heute wohl nicht mehr existiert. Auch die Gocher Mühle, deren Wasserrad sich damals noch drehte, ist heute nicht mehr in Betrieb. Das Gebäude und das stillstehende Rad in der Nähe des Steintores habe ich bei einem kürzlichen Besuch noch gesehen.

Des Namens eines zweiten Mitschülers kann ich mich nicht mehr entsinnen, weiß aber, dass er aus der Apotheke stammte, die damals in der Mitte der Südseite des Marktplatzes lag. Vielleicht die gleiche, die heute an der Ecke zur Voßstraße hin liegt.

Ein dritter Mitschüler hieß Schlüpers. Da er aus einer Samtweberei stammte, wurde er nur "Plüschers" genannt. Diese drei traf ich zwei Jahre später in Gaesdonk wieder.

Der vierte, mit dem ich mich besonders anfreundete, war Hans Welbers. Er war älter als ich und hatte schon die Volkschule ganz absolviert. Jetzt war er wie ich ein "Neuer" in der Quinta. Der Ortspfarrer von Pfalzdorf (das liegt ungefähr fünf km Richtung Kleve auf dem "Gocher Berg") hatte ihn in Latein unterrichtet, weil er zu erkennen gegeben hatte, dass er gerne Priester werden wollte. Wir fingen also beide zugleich Ostern 1926 in der Quinta an. Ich war manchmal bei ihm zu Hause, das den Eindruck machte, als wenn der Vater, ein Maler, seine kinderreiche Familie nur mit Mühe durchbringen konnte. Sie wohnten in einem "Siedlungshaus" nicht weit von der Kirche des Dorfes und hatten einen großen Garten, Hühner und sogar ein Schwein. Hans blieb auch noch mit mir befreundet, als ich schon in Kleve zur Schule ging und er noch in die Quarta in Goch. Erst als er auf ein bischöfliches Internat mit humanistischen Gymnasium in Münster überwechselte, ging unsere Fühlung nach und nach verloren. Doch habe ich ihn viel später noch einmal in Düsseldorf besucht und dabei erfahren, dass er kurz vor dem Abitur das Internat in Münster verlassen musste, weil er ehrlich erklärt hatte, er könne nicht Priester werden. Ein Beispiel kirchlich gerechter Unbarmherzigkeit.

Im Januar 1991 konnte ich bei dem Besuch in Goch feststellen, dass sich dieses "Nest" von damals sich zu einem hübschen Städtchen gemausert hat, in dem sich bestimmt leben lässt. Und das trotz erheblicher Kriegsschäden. Ich erinnere mich, dass ich, als ich mit einem U-Boot auf der Rückfahrt von Ostasien nach Deutschland war, im Februar 1945 "Wehrmachtsberichte" hörte, in denen mehrfach heftige Kämpfe um die Niersbrücken in Goch gemeldet wurden.

1926 waren wir in die Reichsbanknebenstelle in der Brückenstraße gezogen, weil mein Vater ihr Leiter geworden war. Das Haus, in dem wir die erste Etage bewohnten, steht noch. Aber es ist innerlich vollständig umgebaut und mit der daneben liegenden Sparkasse verbunden. Die wurde auf das Nachbargrundstück gebaut, das damals eine Weide für ein Pferd war. Unser ehemaliger Garten und das dahinter liegende Grundstück, der Gemüsegarten der Familie Van Gulick, deren Haus noch direkt an der Niersbrücke steht, sind heute Parkplätze der Sparkasse. In dem Bereich habe ich nur in der Gartenstraße das Haus wiedergefunden, in dem damals Dr. Wehrhan seine Praxis und Wohnung hatte. Aufgefallen ist mir bei meinem Besuch, wie klein doch mein "Aktionskreis" als Kind war. Die Brückenstraße, die Garten- und die Wiesenstraße. Unser Hof und Garten, der Garten der Familie Gewecke. (Direktor bei der "Butter") und die Niers aufwärts zum Mühlenwehr und abwärts bis zum Zusammenfluß der beiden Arme unterhalb des heutigen Minigolfplatzes. Diesen doch recht engen Lebensraum verließ ich regelmäßig nur auf dem Weg zur Schule, der durch den heutigen Park, damals eher ein "Unland" führte, und auf dem Weg zur Bahn, als ich später nach Kleve fuhr. Natürlich gab es dazu noch einzelne Überschreitungen bei Ausflügen zum Gocher Berg, nach Pfalzdorf, nach Asperden, nach Üdem. Unser Verkehrsmittel war das Fahrrad, das wir Kinder alle in Goch lernten.

Im Sommer kam dazu noch der Besuch des Schwimmbades Katellanz an der Niers oberhalb der Stadt. Dessen Beschreibung ist schwierig aber für unsere Zeit mit ihren Begriffen von Hygiene doch vielleicht nicht uninteressant. Das zum Bad gehörige Grundstück streckte sich etwa 100 Meter lang und vielleicht 40 - 50 Meter breit am Ufer des Flußes hin. An der Landseite befand sich eine lange Bretterbude mit Eingang und Kasse, sowie den Umkleidekabinen. Nach meinem Gefühl waren Badezeiten für Jungen, Mädchen und Familien getrennt. Die Wasserseite war großenteils durch eine hölzerne Spundwand gesichert. Dort war im noch flachen Wasser der Nichtschwimmerteil, der von dem tieferen Schwimmerteil durch einen Holzzaun getrennt war. Oben hatte dieser Zaun einen dicken rundlichen Balken, damit man sich nicht wehtun konnte, wenn man darüber glitt. Der Schwimmerteil war etwa bei Flußmitte sowie stromauf und -ab durch dicke Balken begrenzt, die auf dem Wasser schwammen, also irgendwie verankert sein mussten. Flußauf stand ein hölzerner Sprungturm. Die Sprungbretter waren einfache Holzbohlen. Die höchste drei Meter. Das Wasser war dunkelgrün und ziemlich schmutzig von der mitgeführten Erde und vielen Wasserpflanzen. Dennoch sind wir gerne nach kleinen Tellerchen getaucht. Das Schwimmen hat Spaß gemacht trotz der primitiven Anlage. Bei dem späteren Schlager "Pack die Badehose ein...." fällt mir nur immer Katellanz ein.

Goch hatte damals wohl noch keine oder nur teilweise eine Kanalisation. Viele Häuser jedenfalls hatten offenbar Klär- oder Fäkaliengruben, die regelmäßig geleert werden mussten. Das geschah durch einen Kessel auf einem, am Niederrhein auch sonst üblichen, zweiräderigen Karren, gezogen von einem der schweren Pferde, die dort zuhause sind. Von diesem Kessel wurde eine dicke Saugleitung zu der Grube gelegt. Dann gab es einen ziemlich lauten Knall und der Grubeninhalt wurde in den Kessel gesaugt. Die Technik ist mir nie klar geworden. Die Sache war nicht ganz geruchfrei.

Auf der Brückenstraße marschierte jeden Samstagmittag ein Spielmannszug der Freiwilligen Feuerwehr. Sie pfiffen und trommelten immer die gleiche Melodie, nach der wir "Marmelade, Marmelade, meine Mutter kocht Marmelade" mitsangen. Nach dem Sinn der Demonstration haben wir nicht gefragt.

Die Industrie Gochs war damals dominiert von der Margarinefabrik und der Ölmühle. In der "Butter" war ich zwei oder dreimal zur Werksbesichtigung. In Erinnerung habe ich noch die Kühltrommeln, die unten abgeschabt wurden, damit die fertige Margarine in hölzerne Waggons fallen konnte. Die brachten ihren Inhalt dann zu den Packmaschinen, die aus der formlosen Masse die damals vorgeschriebenen Würfel formten und in fettdichtes Papier packten. Die zum Verschieben erforderliche Lokomotive durfte selbstverständlich nicht qualmen. Darum hatte sie zwar einen Kessel, aber der notwendige Dampfdruck musste beim Dampfkraftwerk der Fabrik immer wieder erneuert werden. Das Spitzenprodukt der Fabrik war "Rama", die zuerst noch "Rahma" hieß. Aber neben ihr wurden dort noch 60 Sorten Margarine hergestellt, wie ich bei der Besichtigung erfuhr. Außerdem auch Butter. Aus dem Rahm der Milch, die täglich in großen Mengen vom Niederrhein, Westfahlen und aus Holland angeliefert wurden. Holländisch war überhaupt die ganze Firma und daher auch die meisten Direktoren außer dem Generaldirektor Geweke, der aus Bremen stammte. Die Holländer beherrschten die Margarinebranche wohl vollständig. Denn ich erfuhr bald, dass "Schwan im Blauband" in Kleve auch einer holländischen Gesellschaft gehörte. Dazu kam dann, auch in Kleve, noch die holländische Firma Hartog, die dort ein ganz neues Werk bauen wollte. Allerdings ehe das ganz fertig war, einigten sich die Konkurrenten und fusionierten. Wir merkten es, allerdings nicht mehr in Goch, an der Umbenennung der Spitzenmarken in den gemeinsamen Namen "Rama im Blauband". Mit der alten "Rahma" verbinde ich noch die Kinderzeitschriften "Der kleine Coco" und "Fips", die regelmäßig umschicht vierzehntägig erschienen. Heutzutage gibt es keine "Butter" mehr in Goch. Die Fabrikanlagen waren wohl so zerstört, dass der Wiederaufbau nicht mehr lohnte.

Ein kurzer Besuch langt auch nicht, herauszufinden, wovon die Stadt jetzt lebt. Goch war damals (ist es noch heute?) Eisenbahnknoten. Hier kreuzt(e) die holländische Boxteler Eisenbahn, die zwischen Boxtel in Brabant und Wesel am Rhein verkehrt(e), die deutsche Hauptstrecke Köln-Krefeld-Kleve nach Amsterdam. Ich erinnere mich nicht, dass diese Kreuzung der Stadt großen Nutzen gebracht hätte. Aber die holländischen Lokomotiven waren wunderbar mit ihrem grünen Anstrich und dem weitleuchtenden Dampfdom und Schornsteinrand aus Messing. Sie sahen neben den schwarzen deutschen Lokomotiven wirklich königlich aus. Ich könnte mir vorstellen, dass der Lokomotivführer einen Zylinder trug. Aber das ist wohl nur ein Traum.

Natürlich hatte mein Vater vielerlei Beziehungen zu den Geschäftsleuten in Goch. Aber so etwas berührt ein Kind nicht. Unser Spielplatz war die Niers, an die wir durch Gewekes Garten kamen. Dort gab es ein Bootshaus mit einem Motorboot, einem Paddelboot, einem Einerskull mit Steuermann und einer Art unverwüstlichen, hölzernen Prahm, den nur Herr Geweke mit einer langen Stakstange richtig regieren konnte. Wir verholten uns nur mit Hilfe von Bootshaken am Ufer entlang. Das aber taten wir mit Begeisterung und wir schafften es bei ausreichender "Besatzung" meistens, das sehr schwierige Hindernis der Brücke zu überwinden und in den Wirbelbereich des Mühlenwehres vorzudringen. Dort aber war das Aus, weil die Strömung stärker war als wir. Meistens bekamen wir unser Schiff erst wieder in der Nähe des Bootshauses unter Kontrolle. Wenn wir nicht auf der Niers waren, spielten wir im Garten. Dort gab es im Sommer viel Obst aller Art und unsere Meerschweinchen, die oft Tag und Nacht, frei umherliefen. Die dunkleren Abendstunden verbrachten wir, meine beiden jüngeren Geschwister und ich mit der Mutter, deren ich mich in dieser Umgebung nur an ihrem Stickrahmen unter einer "Tageslichtbirne" erinnere, im Kinderzimmer beschäftigt mit Spielen und Lesen.

Manchmal wurde Vater von Herrn Mühlhoff nach Üdem zur Treibjagd eingeladen. Da gingen mein Bruder Wolfgang und ich gerne als Treiber mit. Nach und nach befreundeten sich auch die Familien mit einander und so waren wir oft auch im Haus "Drei Eschen" zu Gast. Auch ein gemeinsamer Ferienaufenthalt mit der jüngsten Tochter und ihrer Mutter auf Borkum ist mir noch gut in Erinnerung. Damals wurde dort jeden Abend auf der Strandpromenade von der Kurkapelle das "Borkumlied" intoniert. Das war die erste Berührung mit dem Antisemitismus, die allerdings oberflächlich blieb. Die zweite Tochter, Hilde, war lange Zeit meine Freundin, als sie schon in Hamburg studierte. Sie wohnt jetzt als Herrin in "Drei Eschen" und ist für die "kleinen Leute" des Städtchens eine beliebte Hilfe und Hoffnung.

Der dünne Schmitz hatte eine Leidenschaft: Er suchte im Sand des Gocher Berges nach römischen Brandgräbern. Er hatte auch eine Menge Aschenurnen gefunden und aus den Scherben zusammen gefügt. Wolfgang, dessen Klassenlehrer er war, versuchte auf eigene Faust auch fündig zu werden. Aber unsere gemeinsamen Bemühungen blieben erfolglos.

Meine Mutter hatte auch in Goch ein Hausmädchen. Maria hieß sie und stammte aus der kinderreichen Familie eine "Postschaffners" aus Geldern. Wir waren bei ihnen für mehrere Tage und staunten am meisten darüber, dass alle Kinder ihre Eltern mit "Sie" anredeten. Meine Enkel reden ihre Eltern eher mit Vornamen an. Maria war mit einem Schustergesellen verlobt, der noch seine Wanderjahre ableistete. Wir verfolgten interessiert mit, wie der junge Mann zu Fuß von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle bis nach Rom wanderte. Das Brautpaar hat dann geheiratet, aber Maria ist nicht viel später bei einem Autounfall zu Tode gekommen.

Ein anderer Autounfall ereignete sich zu unserer Zeit in Asperden, als ein Auto die abschüssige Straße vom Reichswald herunterkam und vor einem kleinen Jungen, einem Bruder meines Klassenkameraden Van de Loo, der sorglos aus dem Tor der Mühle gelaufen kam, nicht mehr stoppen konnte.

Ende Januar 1929 waren die kältesten Tage, deren ich mich in meiner Jugend erinnern kann, Es begann im Karneval, als wir kostümiert in kurzen Hosen und mit "Pritschen" schlagend auf den Straßen herumliefen. Kurz nach Aschermittwoch fuhren wir zum zugefrorenen Rhein gegenüber Emmerich, das wir zu Fuß hätten erreichen können, wenn die Kälte und die hoch aufgeschoben Schollen uns nicht daran gehindert hätten. Die Quarta und Untertertia erlebte ich auf dem Gymnasium in Kleve. Dorthin kam ich mit dem Zug, der 15 oder 20 Minuten fuhr. Dann allerdings mussten wir durch die Stadt bis zu ihrem höchsten Punkt, wo unsere Schule lag, an die ich nur verschwommene Erinnerung habe. Ich kenne keinen Mitschüler oder Lehrer mehr.

In diese Zeit fielen aber Ereignisse, die ich noch erwähnen möchte:

1. die Bahn schaffte die vierte und die erste Wagenklasse in normalen Zügen ab. Es gab nur noch die Polster- und die Holzklasse. Im Volksmund Ho- und Poklasse Diese Bezeichnungen ergaben sich aus den eingebauten Sitzgelegenheiten. Da die Wagen aber die Nummern 2 und 3 behielten, hielt sich auch die Benennung, bis sie schließlich von 1. und 2. Klasse abgelöst wurden.

2. Wurde die Uhr und mit ihr die Fahrpläne auf 24 Stunden umgestellt. Das hat uns zuerst Schwierigkeiten gemacht 13, 14, usw Uhr zu sagen. Aber der praktische Wert leuchtete sofort ein. Wer heute die Fahrpläne in England liest, wundert sich über deren umständliche Methode der Zeitangabe die ihm komisch vorkommt.

3. Die Frauenmode änderte sich: Die bisherige Haartracht, die aus den Zöpfen großartige Konstruktionen auf den Köpfen ermöglichte und forderte, wich dem "Bubikopf". Die Haare wurden abgeschnitten und der Nacken ausrasiert. Als meine Mutter damit kam, habe ich geweint.

4. Die Rocklänge verringerte sich Schritt für Schritt. Bei meiner Mutter blieb die Entwicklung unter den Knieen stehen. Aber jüngere Frauen ließen auch die Knie sehen. Ich meine diese Entwicklung wäre dadurch möglich geworden, dass die Unterwäsche nicht mehr aus Leinen, sondern aus gewirkten Stoffen hergestellt wurden.

5. Wir Jungen trugen kurze Hosen und dazu nach Jahreszeit lange oder kurze Wollstrümpfe. Unsere Anzüge waren von Bleyle. Die langen Hemden aus Leinen oder Baumwolle kamen ohne Unterhosen aus. Als Mutter eines Tages verlangte, dass wir Unterhosen anziehen sollten wie die Mädchen. gab es Protest. Doch Mutter setzte sich durch und bald gab es Unterhosen auch für Jungen zu kaufen.

6. So etwa 1926 wurde, es gab ja noch kaum ein Radio, der Gassenhauer "Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren" immer und überall mit Hingabe gesungen, gepfiffen oder gebrummt. Radio war zunächst noch eine Sache für Tüftler, weil der Ton nur über Kopfhörer zu vernehmen war. Etwa 1928 bot in Goch ein Händler "Lautsprecher" an die Musik oder Sprache so laut über den ganzen Marktplatz brüllen konnten, dass jeder es hören konnte. Vater kaufte so ein Gerät, das allerdings aus mehreren Teilen bestand: Die Antenne war ein dreißig Meter langer Draht, der von einer Stange, die am Ende unseres Gartens stand, bis ins Haus reichte, ein Akku, der den Gleichstrom für den eigentlichen Empfänger lieferte, und den Verstärker, der dem Lautsprecher die Energie lieferte. Alles zusammen eine Menge Staubfänger. Später gab es dann Geräte, die alles zusammenfassten und aussahen, dass man sie ins Wohnzimmer stellen konnten.

Die Kirmes war für uns ein Fest auf dem Markt und auf der Brückenstraße. Wir bekamen jeder eine Mark vom Vater. Damit auszukommen war natürlich schwierig. Aber der Spaß war davon nicht beeinträchtigt.

Hin- und wieder gab es auch Kloppereien mit "Straßenjungen". So betitelten die Erwachsenen die Knaben, die etwas schmuddelich und mit Holzschulen oder "blackföss" auf der Straße spielten und gerne mit uns "Studenten" Streit suchten. Wir waren gut zu erkennen, denn wir mussten auf der Straße unsere Schülermützen tragen. In der Sexta war die schwarz, in der Quinta blau, Quarta grün, Untertertia dunkelrot, Obertertia Hellrot und Untersekunda weiß. Jede Schule hatte ihre besonderen Farben. Ich kam aus Düsseldorf mit einer blauen Mütze nach Goch, erhielt dann die gocher Quintamütze und im Jahr drauf die ebenfalls blaue klever Quartamütze. Der Mützenkauf bei der österlichen Versetzung zur nächsten Klasse war immer ein kleiner persönlicher Triumph. Nach 1935 wurden die Schülermützen in Deutschland allgemein abgeschafft.

In Kleve ging ich zwei Jahre aufs Gymnasium. Dann waren meine Eltern die Bahnfahrerei satt und brachten mich in Gaesdonk unter. Das war ein Humanistisches bischöfliches Gymnasium des Bistums Münster mit Schülerpension. Die Schule hatte am Niederrhein einen guten Ruf und war die Bildungsstätte für viele Söhne, deren Eltern sich das Schulgeld dort bezahlen konnten. Davon gab es am Niederrhein nicht wenige, die in den kleinen Orten wohnten, in denen es keine höhere Schule gab. Gaesdonk war für mich eine schöne Zeit. Das dort meine Bildung sehr gehoben worden wäre, kann ich nicht behaupten. Die Lehrkräfte waren fast durchweg Geistliche. Nachträglich habe ich das Gefühl, dass Gaesdonk vornehmlich Priester heran ziehen sollte. Viele Priester und Bischöfe sind aus ihren Mauern hervorgekommen. Aber der Sport war gut. Wir hatten eine sehr schöne Turnhalle und einen großen Sportplatz. Unsere Mannschaften holten bei Sportfesten am Niederrhein oft Preise.

Der Verkehr auf den Straßen war in Goch damals natürlich noch sehr dünn. Eine Verkehrsführung oder -regelung wie heute noch nicht notwendig. Aber wir hatten einen Schutzmann auf einer Kreuzung am Marktplatz. Dieser Polizist hieß Mons. Die Studenten freuten sich über diesen für sie beziehungsreichen Namen. Die Vokabel "Mons, montis der Berg" kannten sie alle. Und der Mann war groß und ziemlich dick. Wie gering der Autoverkehr auf den Straßen war geht schon daraus hervor, dass es einen Straßenfeger gab, der jeden Tag die "Pferdeäpfel" aufsammelte. Die waren damals noch als Gartendüngung sehr beliebt.

Die Gemeinde bekam bald nach unserem Einzug einen neuen Pfarrer, der bei meinen Eltern in Ansehen stand, weil er in jeder Familie der Pfarrei persönlich Besuch machte. Um auch den Anschein einer Bevorzugung bestimmter Familien zu vermeiden, ging er genau den Straßen und Hausnummern nach. Die Gemeinde war groß, aber er hatte auch fünf Kapläne. Leider war die Kirche bei meinem Besuch in Goch Januar 1991 in der Renovierung. Ich hätte sie gerne von Innen gesehen. Das große Kreuz auf dem Kirchplatz aber ist noch das Gleiche wie damals, vor dem wir immer die Mütze abnehmen mussten. Die Giebelfassade der evangelischen Kirche hatte ich nicht mehr in Erinnerung, wie übrigens auch die der alten Häuser in der Flucht, und ich war überrascht, wie schön sie ist.


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