Großmutter schreibt einen Brief:

Meckenheim, den 19.3.1995
Liebe Schwiegertöchter!
Liebe Söhne!
Liebe Enkelkinder!

So alte Leute haben wohl mehr Zeit zum Nachdenken und so fiel mir ein, euch einen Brief zu schreiben.

Warum?

Das ist eine gute Frage. Zu allererst, um euch zu danken. Wir danken euch von ganzem Herzen, weil wir es so gut bei euch haben. Mit keinem von euch leben wir im Streit, und in der ganzen großen Familie spricht jeder mit jedem, mit dem einen mehr, mit dem anderen weniger, aber es herrscht kein Zank und keine Feindschaft. Das ist wunderbar für uns.

Also war der erste Anlass: WIR DANKEN EUCH. Das muss schließlich mal gesagt werden.

Als wir Alten ( ich bin 74, mein Mann Oskar 80 Jahre alt) in Urkunden und Bildern kramten, fiel uns auf, dass wir von manchen Vorfahren gar nichts wussten. Das fanden wir recht schade. Vielleicht können wir euch ein wenig von uns erzählen.

Da trafen sich eine 17jähriges Schülerin und ein 23jähriger Marinefähnrich in Stralsund. Er lernte gerade noch fliegen. So kam es, dass wir neben dem Tanzen und Umherspazieren uns unterhielten. Er hatte eine bewegte Vergangenheit. Bewegt dadurch, dass seine Eltern viel umgezogen waren. Als Reichsbankbeamter wurde sein Vater oft versetzt. So zog seine Familie von Hildesheim nach Hameln, Koblenz, Düsseldorf, Goch am Niederrhein, Zittau in Sachsen, München und nach Elbing in Westpreußen. Sein Vater stammte aus Köln, seine Mutter aus dem Dorfe Hockeln bei Hildesheim.

Schon allein die vielen Schulen imponierten mir. Aber die Geschichten von all den Verwandten und Bekannten und Freunden ließen mir manchmal den Mund offen stehen. Ich hatte ja immer am gleichen Ort gewohnt, und meine Verwandtschaft war sehr klein. Meine Mutter hatte die Geschwister meines Vaters alle abgelehnt, ich kannte sie gar nicht.

Also hörte ich umso lieber zu und fragte nach. Staunen musste ich auch über die echten Freundschaften mit früheren Klassenkameraden und Marinefreunden. Ich hatte so etwas unter Mädchen kaum erlebt.

Neben all dem Unsinn, den wir trieben, müssen wir wohl auch von ernsten Dingen gesprochen haben. Ich trat jedenfalls aus langweiligem Elternhaus in eine neue Welt hinein. Bis dahin hatte ich mich mit Idealen aus Büchern zufrieden geben müssen. Neben meinem mir teuren Bruder Gerhard begegnete ich nun einem lebendigen Menschen, der von Einfällen und Nachdenklichkeit strotzte.

Welch Wunder, wenn meine festen Vorsätze, mich niemals zu verlieben, weil das sicher nur Ärger bringen würde, ins Wanken gerieten.

Als die Fliegerausbildung zu Ende war, ging der Oskar Herwartz weit weg auf eine Nordseeinsel. Und Stralsund erschien mir wieder langweilig.

Eine Ausnahme: später tauchte auch der jüngere Bruder meines Favoriten, Wolfgang, auf und auch ihn mochte ich gut leiden.

Für mich und für die meisten um mich herum kam, ganz unvermutet, der entsetzliche Einbruch: KRIEG. Wir waren fassungslos.

Das ganze Leben änderte sich schlagartig. Wichtigkeiten wurden belanglos.

Sicher werdet ihr nicht begreifen, dass wir das Herannahen des Krieges nicht bemerkt haben. Ich verstehe es auch nicht mehr. Aber die Möglichkeit eines Krieges lag uns so fern.

Ich konnte meine Gedanken nur auf die ferne Nordseeinsel schicken! Was würde aus dem Freunde dort werden? Was aus all den jungen Männern, die ich kannte? Aber damals glaubten wir noch, dass es ja nur ganz kurze Zeit dauern würde mit dem Krieg. Allerdings wurde ich sofort eingezogen zum Flugmeldedienst.

Plötzlich machte mir die große Sorge um meinen Freund klar, wie gern ich ihn hatte. Unsere Gespräche waren ja auf dem Briefbogen weiter gegangen. Ich wusste ihn in Gefahr. Ganz merkwürdig ist, dass das Leben trotzdem weitergeht. Man bemerkt, dass das Essen gut schmeckt, man schüttelt sich, wenn es regnet und ich freute mich, als das Abiturzeugnis ankam.

Alle gleichaltrigen Schüler und Schülerinnen, ich war 18 Jahre alt, wurden von den Schulen weggeholt. Zum Arbeitsdienst oder zu den Soldaten. Auch die älteren Jahrgänge wurden eingezogen, und es begann die Frage: Wer wird zu Hause gebraucht, wer wird wohin geschickt? Es gab für die Soldaten keine Adressen mehr, nur noch Feldpostnummern. Man wusste also nicht, wo ist mein Mann, wo mein Sohn, wo mein Enkel?

Wenn ich mir heute vorstelle, ich müsste einen von euch in den Krieg ziehen lassen, der Gedanke bringt mich fast um. Krieg ist etwas ganz Entsetzliches, und doch gibt es so viele Kriege rund um die Erde. Und so viele Unterdrückungen und Quälereien.

Aber lasst uns jetzt davon schweigen. Es mag irgendwo an anderer Stelle stehen. Wie durch ein Wunder haben wir alle Schrecklichkeiten überlebt.

Unsere Liebe wurde uns bald klar, und im September 1941 haben wir dann geheiratet. Zwei Wochen gemeinsame Zeit waren uns vergönnt. Dann ging mein Oskar zurück zu seinem Flugplatz und ich in die Kaserne. Vorher hatte ich ein Jahr in Kopenhagen Dienst gemacht. Die Stadt ist sehr schön Im Krieg darf niemand dahin gehen, wo er will. Wenigstens alle jüngeren Menschen sind fest eingespannt. Wir sahen uns selten.

Schließlich wurde unser Wunsch erfüllt: 1943 wurde uns ein Sohn geboren. Wir nannten ihn Christian. Uns war das Christsein sehr wichtig und wir wollten das unserem Sohn durch seinen Namen mitgeben. Damals fielen überall Bomben. Niemand wusste, ob er den nächsten Tag noch erlebte. Viele Kinder wurden zu Waisen. Und doch glaubten wir an das Leben. Christian liebten wir sehr. Sein Vater musste dann mit dem U-Boot nach Südostasien, als Christian ein Dreivierteljahr alt war. Als er wieder zu uns kam, war der Junge zweieinviertel Jahre alt.

Und wir waren in Hildesheim. Oskars Vater hatte sich schon 1941 an die Reichsbank dort versetzen lassen. Ich war vor den Russen zu meinen Schwiegereltern geflüchtet. Gerade rechtzeitig zum ersten Bombenangriff.

Eine Bombe fiel vor und eine hinter das Haus. Da brachte mich mein Schwiegervater mit dem Jungen zu entfernten Verwandten auf ein Dorf, nach Kleindüngen. Wieder bei fremden Leuten. Sie waren zwar freundlich zu uns, aber mit einem kleinen Kind ist es nicht leicht sich einzuordnen.

Beim vierten großen Angriff am 22. März 1945 wurde die alte, wunderschöne Stadt Hildesheim fast völlig zerstört. Ich radelte, auf einem von meinen Gastgebern geliehenen Fahrrad, durch die brennende Stadt, um meine Schwiegereltern zu suchen. Wie furchtbar so ein Flammenmeer ist mit seinem Feuersturm, den umherirrenden Menschen und dem Wissen um Tote und Verletzte, könnt ihr euch gar nicht vorstellen.

Lasst mich alles Schreckliche überspringen. Wir lebten. Denn zu meiner großen Freude kam Oskar im Sommer 1945 wieder zu uns. Er hatte Schreckliches erlebt. Sein U-Boot war im Kattegat untergegangen. Nur die Männer die auf der Brücke waren, konnten gerettet werden. Sein Bruder Wolfgang war mit seinem U-Boot in der Irischen See versenkt worden. Das war noch im März 1945.

Oskar sah sich um in der durch Bomben fast völlig zerstörten Stadt. Und wurde Maurerlehrling.

Nein, es waren keine rosigen Zeiten und beim "VATER UNSER" blieben an der Stelle "UNSER TÄGLICH BROT GIB UNS HEUTE" die Gedanken stecken.

Aber wir waren beieinander. Glücklich und dankbar. Unseren zweiten Sohn nannten wir Wolfgang. Ein wenig Trost für die Großeltern.

Für uns begann nun das eigentliche Familienleben. Wie Oskars Eltern mussten auch wir oft umziehen. Zuerst von einem Zimmer in der Reichsbank in eine richtige Wohnung. Ich hoffe, ihr habt immer eine bessere. Nicht nur Steinfußböden, mit nur einem Ofen und das Klo im Treppenhaus. Aber wir waren hier in der Kleinen Venedig 8 froh über den eigenen Kohleherd. Oskar hatte uns das Wohnrecht durch Teilnahme am Wiederaufbau eines Trümmerhauses erworben.

Der hatte inzwischen die Maurergesellenprüfung und den Abschluss auf einer Ingenieurschule gemacht. Nun verdiente er etwas mehr Geld. Da konnten wir noch Kinder bekommen. So kamen 1951 Thomas und 1954, in einer besseren Wohnung, in der Wörthstraße, Matthias zur Welt.

Oskar baute inzwischen Siedlungshäuser und organisierte die erforderliche Selbsthilfe zusammen mit Sparkassen, Siedlungsgesellschaften, mit dem Bauorden des belgischen Pater Werenfried van Straaten, mit der Internationalen Gesellschaft für Christlichen Aufbau in Heidelberg, und mit mehreren einzelnen Förderern. Dafür war natürlich ein Auto notwendig. Und so wurden wir Besitzer eines grauen Käfers. Schließlich übernahm es Oskar in Kassel die Zweigstelle einer Frankfurter Siedlungsgesellschaft einzurichten und zu leiten. So zog er mit uns in das Dorf Wilhelmshausen an der Fulda in Hessen.

Eine ganz neue Umwelt. Der Ort hatte 4oo Einwohner. Wir konnten ein altes Haus mit einem großen Garten kaufen. Das Geld dazu war komplett geliehen. Nun fingen wir an, Hühner Enten, Gänse, Puten und Schafe zu halten. Das nötige Wissen steuerte unser Nachbar bei. Die Arbeit mussten wir selber leisten. Nicht ganz einfach bei vier Kindern von ein bis zwölf Jahren. Christian ging in Kassel auf das Gymnasium. Wolfgang in die Dorfschule.

Nach einem Jahr ging Oskar zur Bundesmarine. Ich könnte einen ganzen Brief über die Gründe für diesen Entschluss schreiben. Kurz: Er glaubte dort dem Ganzen am besten dienen zu können. Vielleicht könnt ihr das heute nicht verstehen. Aber ihr müsst ihm schon vertrauen, dass er das für richtig hielt. Und ich tat es schließlich auch. Als ich mir sagte, dass ein Unternehmen, auch der Staat, nachts seine Tür zuschließen muss. Das Schloss hindert doch die, die sonst allzu leicht hereinspazieren können. So etwas, wie ein Schloss oder ein Hofhund war damals in unseren Augen auch die Marine.

Also zog Oskar von Wilhelmshausen an der Fulda nach Wilhelmshaven und kam nur am Wochenende nach Haus. Traurig, aber er fand bald eine Wohnung. Der Umzug schien bevor zu stehen. Wir verkauften das alte Haus umgehend, behielten aber das Recht wohnen zu bleiben.

Nun muss ich hier einfach schreiben, dass wir sehr verliebt waren in unsere Söhne. nein, sie waren nicht braver als andere. Auch nicht klüger und schöner. Sie waren einfach da und uns ganz nahe. Sie waren ein ganz wichtiger Teil unseres Lebens. Für sie und ihr Glück wollten wir sorgen. Ihr Leben war unsere Freude. Es war gar nicht selbstverständlich, dass sie da waren. Sie waren uns geschenkt trotz aller Nöte. Vielleicht war uns das auch besonders bewusst durch all die schlimmen Jahre, und auch dadurch, dass uns ein Kind 1947 bei der Geburt gestorben war.

Wir hatten also Mut und es meldete sich bald auch ein Kind an. Da warteten wir auf den Umzug, aber die Wohnung wurde nicht frei. Ich dafür umso rundlicher. Und ängstlicher. Es kam, wie es kommen sollte: Oskar wurde nach Bonn versetzt und suchte im Wettlauf mit der Geburt eine Wohnung. Er fand auch eine in Brühl und kündigte den Umzug an. Ich fuhr zur gleichen Zeit nach Kassel in die Klinik und bekam..........Zwillinge! Martin und Michael. Das war eine Überraschung. Ich hatte ja im Winter nicht zum Arzt in die Stadt fahren können.

Die Jungs waren gesund und munter. Großes Staunen bei den Brüdern und Eltern. Oma aus Stralsund war schon ein paar Wochen da. Sie musste ja immer eine amtliche Erlaubnis haben, um aus der DDR ausreisen zu dürfen. Die Verhältnisse in diesem schlimmen Staat waren erdrückend. Aber das müsst ihr schon an einer anderen Stelle nachlesen oder euch erklären lassen.

Also wieder ein Umzug. Der war ja angemeldet. So zog Oskar mit großem Möbelwagen, Schwiegermutter und vier Kindern nach Brühl bei Köln, während ich mit zwei kleinen Babys in Kassel im Krankenhaus lag. Eine gelungene Situation.

Eine Woche darauf holte er mich ab. Da ich die Wohnung in Brühl nie gesehen hatte, noch recht wackelig auf den Beinen war, schien mir das Leben schwierig zu sein. Doch, wie ihr seht, haben wir gemeinsam überlebt. Die Oma musste sofort abreisen. Ihr Visum war abgelaufen. Das war aber ganz gut. Sie fand sechs Kinder ohnehin zu viel und sagte das auch. Sie hatte beschlossen, nur drei zu mögen, die anderen drei als minderwertig zu bezeichnen und auch so zu behandeln, was Ihrer eigenen Beliebtheit bei Eltern wie Kindern nicht gut tat.

Die beiden Ältesten mussten wieder in eine neue Schule. Das war bestimmt nicht einfach. Thomas begann seine schulische Laufbahn zwei Monate später.

Wir hatten mal wieder Glück und fanden nacheinander liebe Mädchen, die bei uns den Haushalt lernen wollten. Sie fühlten sich offenbar wohl bei uns. So gehörten sie fast zur Familie, sie waren ja auch so alt wie Christian.

Ein Jahr später rüsteten wir zur ersten Ferienreise. Bis dahin hatte Oskar noch nie Urlaub machen können. Nur die großen Kinder hatten Schulferien. Im Kindergarten war keiner von ihnen.

Ihr seht, die Zeiten waren recht hart. Wir besorgten uns das billigste Quartier, das zu haben war, tauschten unseren einfachen VW gegen einen klapperigen Bus um und packten Bettwäsche, Windeln, Handtücher, Unter- und Oberhosen usw. ein. Am ersten Ferientag stiegen wir ein: Vater, vier Söhne, und Henny, der Haushaltslehrling. Vorher war der Zwillingswagen mit den einjährigen Söhnen mit ihrer Mutter verstaut worden. Die Ankunft an der holländischen Küste beeindruckte uns mächtig. Das Meer!

Das Haus war natürlich viel, viel zu eng, dafür erfuhren wir, dass wir nach einer Woche ins Nachbardorf umziehen mussten. Da stand ein alter Straßenbahnwagen für uns bereit. Kochen konnte man vorne im Steuerraum. Wir hatten jetzt einen Fotoapparat. Die Bilder verraten, dass wir sehr fröhlich waren.

Für das nächste Jahr mieteten wir gleich ein größeres Haus. Das war auch gut, denn meine Freundin Irmi bat mich ihren Hans, ein Einzelkind, mitzunehmen. So hatten wir nun sieben Jungs und eine "Tochter" Zehn Personen zusammen. Für alle wurde gekocht, gewaschen usw.

Sowas geht wirklich nur, wenn Vater und Mutter ganz eng zusammenhalten und glücklich über diese "Last" sind. Es sind auch später noch fremde Kinder mit uns verreist. Letzte Woche rief eines dieser "Ferienmädchen" an. Es wäre doch sooo schön gewesen mit uns in Österreich. Damals hatten wir drei eigene und drei fremde Kinder mit. Warum? Irgendwie waren deren häusliche Verhältnisse zu der Zeit nicht so glücklich unsere. Wir spürten immer, wie dankbar wir sein konnten. Es hat uns und unseren Jungs nie geschadet, etwas teilen zu müssen. Im Gegenteil am Ende waren wir meistens die Beschenkten. Das Lachen teilt sich gut. Und alle haben spielend gelernt, mit anzupacken.

Aber nun zurück in die Reihenfolge: Als die Zwillinge 3 Jahre alt waren, sind wir nach Kiel in die Hansastraße 102 gezogen. Die Stadt gefiel uns gut. Das viele Wasser rundherum, Baden, Schiffe, gute Freunde und eine lebendige Kirche mit guten Pfarrern, über die ich ein Extrakapitel mit Geschichten zum Schmunzeln schreiben könnte. Wir hatten noch Herrn Wünsch, einen Studenten, in der Wohnung und unter uns wohnten Hoffmanns mit sechs Kindern. Ein friedliches und interessantes Beieinander. Mit Wünsch und den Eltern Hoffmann sind wir bis heute befreundet.

Christian ging von der Schule und auf die Werft. Er machte dort ein zweijähriges Praktikum, um später Ingenieur werden zu können. Danach zog ihn die Bundeswehr ein. Wir brachten ihn alle in die Kaserne in Flensburg. Auf der Rückfahrt musste ich erbärmlich weinen. Der Erste ging aus dem Haus! Am nächsten Wochenende stand er schon wieder vor unserer Tür, Sonderurlaub, sie hätten noch keine Uniform bekommen

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Ganz erstaunlich ist, dass wir viereinhalb Jahre in Kiel bleiben konnten. Dann ging es nach Meckenheim bei Bonn. Den Ort haben wir nicht genau angesehen. Das lohnt ja doch nicht für die zwei oder drei Jahre. So glaubten wir. Aber ein großes Reihenhaus konnten wir erstehen. Geld? Da gab es Anleihen und öffentliche Zuschüsse. Wir kratzten alles zusammen.

Christian war in Meckenheim schon nur noch Besuch. Die fünf anderen wechselten die Schule. Wolfgang und Thomas gefiel es gut dort. Matthias versagte zuerst total. Alle sprachen rheinisch, auch der Lehrer beim Diktat. Die Zwillinge vermissten ihre Kieler Lehrerin. schmerzlich. Nach fünf Tagen kam eine vernichtende Kritik über die Neue, mit dem Nachsatz "und hübsch ist sie auch noch nicht mal!" Später gingen dann die drei Jüngeren auch auf Gymnasien in Bonn.

Nun sollte ich wohl den Werdegang unserer Söhne kurz schildern. Doch noch erst zu Oskar. Er blieb bis zu seiner Pensionierung als Kapitän zur See im Verteidigungsministerium. Er war damals 58 Jahre alt. Sofort begann er eine neue Tätigkeit. Weil er meinte, der Militärpfarrer Pater Bollinger SJ habe mehr Ideen, als er allein bewältigen könnte, wurde er dessen Adlatus. Es wurde eine echte Freundschaft zu diesem Pater, der zu den Dingen der Ordnung dieser Welt wenig Verständnis hatte. So kam es, dass Oskar nach dessen plötzlichen Weggang seine Ideen und Pflichten soweit, wie möglich, übernahm. Die späteren Pfarrer übernahmen ihn als willkommene Unterstützung. So blieb er 17 Jahre in ihrem Dienst.

Ich war und blieb eine Hausfrau mit den 3 K.

(K)inder, (K)üche (K)irche.  

Hausfrau mit den 3K war eine ziemlich verächtliche Beleidigung. Es sollte heißen: langweilig, doof und immer artig!

KINDER, ich weiß nicht, wer die langweilig finden kann. Es ist doch so spannend mit ihnen. Zuerst ist man ganz überwältigt von dem kleinen Wunder, dann kommt das erste Lächeln, die ersten Schritte. Und immer wieder die Frage: Wer ist das? Was für ein Charakter, was für Eigenschaften und Begabungen stecken in dem kleinen Wesen? Ist es gesund?

Ich behaupte, dass mit der Geburt auch noch ein ganzer Sack Liebe auf die Welt kommt. Wenn Eltern vor dem Kinderbettchen stehen und staunen, sieht für sie die Welt plötzlich ganz anders aus. Bei uns war das wenigstens so. Natürlich, nun beginnt das Kind auch Ansprüche zu stellen, die sich nicht immer gut mit den eigenen Wünschen vertragen und viel Mühe und Kraft kosten.

Dann wächst das kleine Wesen heran. Es klettert auf den Schoß, es brüllt und wird krank. Es hat seinen eigenen Willen und es wird schwierig, diesen anderen Menschen immer zu verstehen. Besonders dann, wenn er älter wird, sich manchmal selbst nicht versteht und sich unverstanden fühlt. Dabei hat er oft Recht. Es bedrückt uns sehr, dass wir viel falsch gemacht haben in der Erziehung. Zu weich, zu hart waren, zu unerfahren. Jedes Kind ist anders, jedes Umfeld. Ich möchte hier in unser beider Namen unsere Söhne um Verzeihung bitten für manche Ungerechtigkeit und Blindheit. Die Schwiegertöchter und die Enkelkinder auch. Aber die waren ja nicht so lange und so nahe bei uns.

Die Frage: Was mag aus diesem kleinen Wesen werden??? begleitet uns bis heute. Immer wieder überraschen uns unsere Söhne und nun auch die Schwiegertöchter mit neuen Gedanken und Entschlüssen. Sie sind ganz selbstständig, aber sie lassen uns doch manchmal teilnehmen an ihrem Leben. Dafür sind wir eben dankbar.

Langweilig waren sie nie!

CHRISTIANs Weg zum Beispiel, war immer spannend. Durch ihn sind wir zu ganz andere Fragen gekommen. Er hat auch bei deren Beantwortung heftig mit uns gerungen, was uns meistens sehr gut getan hat. Ist das langweilig? Das kann doch wirklich niemand behaupten. Uns hat er immer wieder aus äußerer und innerer Bequemlichkeit gerissen. Wir gehen gern neben ihm.

Nach seiner zweijährigen Dienstzeit ging er nach Neuss, um sein Abitur zu machen, in der Absicht Theologie zu studieren. Am Rosenmontag 1967 trat er in das Noviziat der Jesuiten in Ascheberg ein. Zur Ausbildung in diesem Orden gehören soziale Dienste. Christian arbeitete in einem Krankenhaus und in einem Heim für Obdachlose in Münster. Er studierte in München und in Frankfurt. Hier arbeitete er neben dem Studium regelmäßig bei einer Umzugsfirma. Nach dem Examen ging er als Gastarbeiter nach Toulouse. Er lebte dort in einer Communität befreundeter Jesuiten, die alle im Arbeitsleben standen. Dort wurde er zum Diakon geweiht. Er wurde arbeitslos und ging nach Straßburg zur Ausbildung als Dreher und übte diesen Beruf in Paris aus. Dort beendete er seine zweijährige Spezialausbildung. 1976 wurde er in Frankfurt zum Priester geweiht und feierte seine Primiz in Meckenheim.

Mit Michael Walzer gründete er in Berlin-Kreuzberg eine neue Kommunität. Viele neue Erfahrungen stürmten auf ihn ein. Arbeit in der unpersönlichen Struktur eines Großbetriebes, Siemens, und die persönliche Begegnung mit Menschen, die aus verschiedensten Gründen in schwierige Verhältnisse geraten waren. Gleichzeitig Erlebnisse von Hochherzigkeit und Freundschaft. Der frühe Tod Michael Walzers war ein schwerer Schlag für ihn. Doch mit Hilfe von Jesuiten und anderen Freunden konnte die Kommunität bis heute weiterleben.

Nun könnte ich alle anderen Söhne ansprechen. Ich täte es auch gern. Aber ich höre zu deutlich, wie ihr anfangt zu gähnen.

Und da sind da auch noch viele Ereignisse, stille Beobachtungen, Geheimnisse der Einzelnen und solche zwischen uns, die ich nicht ans Licht zerren möchte. Gute, zarte, peinliche, tröstende, schwierige und frohe.

Mit jedem von euch haben wir versucht mitzuleben. Haben uns geirrt oder richtig geahnt, haben eure Traurigkeit bemerkt und eure Freuden, haben mit euch gezittert. Jeden von euch haben wir geliebt.

Viele Wege sind wir mit unseren Söhnen gegangen und tuen es heute noch. Gerade Straßen und Umwege. Oft sind die Umwege interessanter, bunter, aber auch aufregender. Manche Nacht haben wir wenig geschlafen. Bis der Mensch erwachsen ist, vergehen viele Jahre. Und wann ist er erwachsen?

WOLFGANGs Zeit in Münsterschwarzach war für ihn und auch für uns alle voller Erlebnisse. Tiefe Eindrücke sind geblieben. Unvergesslich die gleichzeitig ernsten, gelassenen und heiteren Patres und Brüder. Wolfgang ging dann einen anderen Weg. Das war sicher richtig. Es ist eben wichtig eigene Entscheidungen in Wahrheit zu treffen. Heute gibt es das Wort "Lebensplanung", habe ich mir sagen lassen. Wir können das nicht verstehen. Die Vorstellungen, die man sich für die Zukunft macht, lassen sich doch meistens nicht realisieren. Immer wieder werden sie umgestoßen durch neue Ereignisse, Hindernisse, Freuden und Enttäuschungen. Wolfgang ist beweglich geblieben. Als Bauingenieur ging er nach Trinidad und fragt ihn selbst, wo er sich überall herumgetrieben hat. Seine junge Frau GUDRUN holte er aus Lübeck vom Studium weg und zog mit ihr nach Düsseldorf und später nach Osterath. Sein buntes Berufsleben sah ihn dann in Holland und und und... Gudrun war mit den Kindern oft allein. Jetzt wohnen sie in einem schönen Haus in Titz mit den Kindern Dominik, Friederike, Sebastian und Marius.

Was aus denen wird ist auch wieder spannend. Wenigstens einmal im Jahre haben sie als Gast einen Jungen aus Weißrussland, der an den Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl schwer leidet.

THOMAS ist der einzige Sohn, der glatt durch die Schule ging. Nach der Bundeswehrzeit studierte er zielstrebig Mathematik und Physik. Bei den Pfadfindern schon hatte die Freundschaft mit ANGELIKA begonnen. Als zwanzigjährige Sportstudentin feierte sie mit ihm, dem Studenten, eine fröhliche, glückliche Hochzeit. Auch ihre Examen schafften beide gut. Alexander half schon dabei. Angelika war die Familie wichtiger als ein Beruf. Daniel und Susanne wurden noch in ihrer ersten Wohnung geboren. In der Uhlandstraße kamen dann noch Christiane und Jonas dazu. Thomas war nun Studienrat bei den Schwestern in Hersel. Von dort ging er nach England an die Europaschule in Culham. Eine interessante Zeit, die jetzt im Sommer 1995 enden wird, wenn die Familie wieder nach Meckenheim zieht. Über die Zeit in England solltet ihr Thomas und Angelika selbst befragen. Sie werden dann auch über die schwere Krankheit Susannes berichten, und ihr werdet erfahren, wie es den fünf Kindern geht.

Hier muss ich einschieben, dass wir in die Heerstraße in Meckenheim gezogen sind. Meine Mutter, eure Uroma, hatte im Alter von 75 Jahren die DDR verlassen dürfen und war nach Köln gezogen. Von da aus waren wir und ihr Sohn Gerhard am leichtesten erreichbar. Natürlich war sie in all den Jahren oft und meist sehr lange bei uns. Als sie 97 Jahre alt war, konnten wir ihr eine eigene Wohnung mit ihren Möbeln in unserem Haus geben. Sie lebte dort bis sie 1o2 Jahre alt starb. Ihr Grab ist auf dem Waldfriedhof Meckenheim.

MATTHIAS brachte eine Lehre als Feinmechaniker bei gleichzeitigem Fachabitur hinter sich, dann das Studium Maschinenbau an der Fachhochschule in Aachen mit Abschluss. Nun sollten zwei Pädagogigsemester als Voraussetzung für den von ihm angestrebten Beruf eines Berufschullehrers folgen. Dieser Plan wurde vom Kultusminister durchkreuzt. Der meinte, für diesen Beruf sei ein Hochschulstudium erforderlich. Kaum hatte er sich mit der neuen Lage abgefunden, da meldete sich die Bundeswehr. Darum ging Matthias zum Entwicklungsdienst, lernte Spanisch und sollte für zwei Jahre in die Dominikanische Republik. Aber so lange wollten sich die 18jährige Schülerin CLAUDE und er nicht trennen. Am 2.Januar 1982 war die Hochzeit, am 4.1. stiegen sie ins Flugzeug. Es waren keine leichten Jahre für sie und kein leichtes Wiederkommen. Matthias studierte nun fast von vorne noch einmal in Wuppertal. Claude begann eine Ausbildung als Hebamme in Marburg. Familienwohnsitz war Lohra. Dort wurde auch Tobias geboren. Nach ihrem Examen zogen sie zusammen nach Duisburg. Dort arbeitete Claude als Hebamme im Bethesda-Krankenhaus bis die beiden Mädchen Lara und Alena zur Welt kamen. Matthias machte zum zweiten Mal Examen. Nun konnte er an der Berufsschule Bonn-Nord Studienrat werden. Die Familie wünschte sich eine Bleibe in der Nähe der Schule. Sofort boten Anja und Martin ihnen Unterschlupf in ihrem Haus in der Uhlandstr. an. Nun wohnten, kochten, badeten fünf noch nicht schulpflichtige Kinder und vier Erwachsene in dem Reihenhaus. Und sie vertrugen sich! Dann aber wurde die Dachwohnung in der Heerstr.100 frei. Wir waren froh, als die Fünf zu uns zogen und etwa neun Monate bis zum Einzug in ihr neues, eigenes Haus in St. Augustin bei uns blieben.

Von MARTIN und MICHAEL muss ich zunächst gemeinsam erzählen. Zwillinge sind schon etwas ganz Besonderes. Für uns alle waren sie eine große Freude. Jeder lachte sie an. Welch Wunder, dass sie auch sehr fröhlich waren, sich bestens vertrugen und gemeinsam die tollsten Einfälle verwirklichen konnten. Das ging besonders gut in der Schule. Ich bin immer sehr vorsichtig zu den Elternsprechtagen gegangen. Was ich da alles hören musste! Aber so richtig böse konnte ihnen keiner sein, das Lachen war meist stärker.

Die letzten vier Schuljahre verbrachten sie am Gymnasium in Meckenheim. Natürlich saßen sie an einem Tisch, allerdings saß zwischen ihnen MARITA, ein Mädchen aus Fritzdorf. Alle drei machten zusammen Abitur.

Martin wurde gleich zur Bundeswehr eingezogen. Danach studierte er in Bonn Jura, brach aber nach wenigen Semestern ab und ging nach Köln auf die Katholische Fachochschule für Sozialarbeit.

Jetzt ist er im Kreis Neuenahr-Ahrweiler im Auftrag des Roten Kreuzes als Sozialarbeiter mit der Sorge für Aussiedler, Asylanten und andere Hilfsbedürftige beschäftigt. Er heiratete ANJA, die er im Rahmen seiner Pfadfindertätigkeit kennen lernte. Sie hatte Englisch und Geschichte. studiert. Ein Wirken an einer Schule hat sie aber nicht begonnen, weil die beiden Kinder, Christina und Andreas, sie brauchten. Die Familie wohnt in unserem früheren Haus Uhlandstr.42, das ihnen jetzt gehört.

Michael konnte gleich nach dem Abitur die Ausbildung zum Sozial-arbeiter beginnen. Wegen einer früheren Nierenoperation wurde er nicht zur Bundeswehr eingezogen. Noch während der Studienzeit heiratete er Marita, die ihrerseits in der Ausbildung zur Sonder-schullehrerin war. Er wurde Bewährungshelfer beim Amtsgericht in Brühl. Marita bekam während ihres ziemlich langen Studiums vier Kinder, Stephanie, Christoph, Lukas und Maria. Nach dem Examen bot man ihr zu ihrer Überraschung sofort eine Stelle an. Daraufhin ließ sich Michael beurlauben und blieb zuhause bei den Kindern. Sie wohnen in einem eigenen Hause in Erftstadt-Köttingen. Inzwischen ist Maria 8 Jahre und Michael steigt wieder in seinen früheren Beruf ein. das wird Schwierigkeitewn geben, aber die Familie hat es auch geschafft, eine bosnische Frau mit vier Kindern für ein ganzes Jahr bei sich aufzunehmen. Deren Mann war vor ihren Augen erschossen worden.

Beide Zwillinge hatten ziemlich tief in die elenden Verhältnisse unseres Pflegesohnes Edgar gesehen und da sie keine Herzen aus Stein haben, zog es sie in ihren Beruf.

Edgar begegneten wir, als er 10 Jahre alt war. Er war in einem Kinderheim, ging aber nicht in die Schule, konnte weder lesen, noch schreiben, noch rechnen. Dabei machte er einen gescheiten Eindruck. Als wir hörten, dass er nicht nach Hause zurückkonnte, weil seine Mutter, die insgesamt neun Kinder hatte, das Sorgerecht abgegeben hatte, nahmen wir ihn zunächst mit in die Ferien nach Österreich. Dort erlebten unsere Zwillinge mit uns seine großen Schwierigkeiten. Es würde hier viel zu weit führen, davon zu erzählen. Wir alle wollten ihn bei uns behalten. Wir sahen darin die einzige Chance für ihn. Er hatte schon viel Böses erlebt. Bestimmt hatte er Sehnsucht nach Wärme und Liebe. Oft haben wir uns gefragt, was wir alles falsch gemacht haben. Immer wieder hat er sich von uns abgesetzt, immer ist er wieder gekommen. Aber wir waren nicht in der Lage, ihm einen Zugang zu einem befriedigenden Lebensweg zu verschaffen. Zurzeit ist er freiwillig in der Organisation Le Patriarch, weil er allein nicht mehr leben kann. Wieder hoffen wir für ihn.

Gern hätten wir Tagebuch geführt über all die Streiche, Erfolge und Ausrutscher. Und natürlich über eure Aussprüche. Jede Menge gibt es. Ihr würdet alle lachen, wenn ihr hören könntet, wie oft wir alten Leute noch immer einige davon gebrauchen.

"Warum geht Vati morgens immer weg?"
"Der muss doch arbeiten gehen."
"Warum, wir haben hier doch Arbeit genug!"

Nach einer besonders zärtlichen Morgenbegrüßung: Tiefer Seufzer und dann: Weißt du, wer nicht küssen kann, der kann nicht viel!" usw usw.

Ist K(inder) langweilig?

Und dann tauchten die fünf Schwiegertöchter auf. Ich hatte mir fest vorgenommen, zu jeder nett zu sein, alle Augen zu schließen, um die Fehler nicht zu sehen, und jede Menge Freundlichkeiten zu bündeln und anzubieten. Ich hatte gedacht, das würde Arbeit machen.

Es wurde ganz anders. Sie kamen und sie siegten im Handumdrehen. Zuerst waren sie etwas schüchtern aber reizend, hübsch und alle sehr gescheit. Es war einfach eine Freude, sie kennen zu lernen.

Bald tauten sie auf und beteiligten sich an unserem ziemlich munteren Familiengespräch. Zum Glück hatten sie auch Fehler, so brauchten wir keine Vollkommenheiten vorzuspielen. Einer der Söhne bemerkte dazu nur: "Seit meine Mutter Schwiegertöchter hat, stehen wir Söhne im Hintergrund." Ob das wohl wahr ist?

Das zweite "K" = "KÜCHE" ist leicht abzuhaken.

Na klar, da sitzen lauter hungrige Figuren um den Tisch. Da macht es Spaß, wenn sie gerne zulangen. Kochen ist eine ganz einfallsreiche Beschäftigung.

ABER: dazu gehört abwaschen, aufräumen und Fußböden säubern. Endlose Stunden bringt man in der Küche und Umgebung zu. Man könnte die Teller an die Wand, die Reste in den Abfall und die Haustür in den Rahmen schmeißen. Jeden Tag derselbe Dreck. Der sitzt im ganzen Haus, grinst einen aus der Badewanne, aus jedem Hemd und hinter allen Betten und Gardinen an.

Vor lauter Mist kommt man zu nichts Vernünftigen. Denn da sind ja noch all die Sachen, die kaputt gehen, Knöpfe reißen ab, Nähte platzen, Strümpfe sperren Löcher auf und das bei sieben männlichen Wesen. Nein der Haushalt ist keine reine Freude, und niemand bemerkt es, wenn er immer wieder einigermaßen in Ordnung gebracht worden ist. Jeden Tag der gleiche Trott.

Ich gebe zu, das war schon manchmal ein harter Lohn für das Glück, so viele und geliebte Mannsleute um mich zu haben.

Gestöhnt habe ich einmal laut, dass ich nicht mehr zum Lesen käme. Da hatte mein großartiger Mann die Idee mir vorzulesen. Ganze Bücher in Abschnitten, Seiten aus interessanten Zeitschriften, Kurzgeschichten. Es ist für uns zu einem wunderschönen Hobby geworden, gemeinsam Neues zu erfahren. Vorgelesenes öffnet sich übrigens besonders gut.

Das dritte "K" ist KIRCHE

Schwer zu beschreiben, was Kirche für uns war oder ist. Kirche erscheint ja als das Äußere, das sich um die innere Wahrheit baut, voller menschlicher Unvollkommenheit. Kirche ist aber auch der Ausdruck der ganz wunderbaren Idee des Christentums. Also es ist schon sehr schwierig, darüber zu schreiben. Ich kann es eigentlich nicht. Es hat mich aber so sehr angerührt, ja begeistert, als ich von der Liebe Gottes hörte, dass ich dann auch den Gedanken Jesu nachging. Die faszinieren uns beide noch heute. Immer wieder erstaunen uns die Worte aus der "Frohen Botschaft". Sie sind so ganz anders, als das, was man hier in der Gesellschaft hört. Die Menschen streben doch nach Ansehen, Reichtum und Macht. Wie oft haben wir nebeneinander in der Kirchenbank gesessen, mit Fragen zum Beruf, mit Geldsorgen, mit ungelösten Problemen unserer Söhne, ganz manchmal auch mit Ärger übereinander. Der Ärger verflog und viele Antworten haben wir dort gefunden. Wir waren einfach den Wichtigkeiten näher gerückt, und weil wir uns vom Altar aus betrachteten, verschoben sich unsere Gewichte. Wir konnten da um Verzeihung bitten, auch uns gegenseitig und unsere Kinder.

Na sagen wir mal, wir konnten uns von Jesus an die Hand nehmen und auch mal einen Schubs geben lassen. So haben wir auch Mut bekommen, verrückte Sachen zu machen. Oder war es vielleicht nicht verrückt, wenn man sechs Söhne hat und Arbeit in Fülle, noch einen schwierigen Knaben aufzunehmen?

Wenn ich an Kirche denke, dann auch an die vielen Geistlichen, die uns gedient haben. So haben wir das immer gesehen. Es waren gute, kluge Menschen darunter. Viele von ihnen haben auch unsere Söhne beeindruckt.

Kirche ist eben nicht nur eine Organisation. Viele Namen sind für uns mit ihr verbunden. Es sind die Männer und Frauen, lebende und längst verstorbene, die uns immer wieder Mut zum Leben gegeben haben.

Und denkt nur an all die Familienfeste, die wir in der Kirche feierten, angefangen mit unserer ersten Hochzeit, über Kindtaufen usw. bis zu unserer Goldenen Hochzeit!

Mit dem Wort "Freund" gehen wir sehr vorsichtig um. Aber uns sind doch sehr viele warmherzige, interessante, liebenswerte und kluge Menschen begegnet, die wir nicht missen möchten. Zum Aufzählen langt die Tinte nicht. Ich müsste ja auch bei jedem erklären, warum er unser Freund ist. Aber das Schlimmste wäre, würde ich einen vergessen. Das täte mir sehr, sehr leid.

Es waren ja auch nicht nur Einzelpersonen, manchmal waren es Gruppen. Dazu gehören Frauen in Kiel und Meckenheim, mit denen ich über Jahrzehnte zusammengearbeitet habe, weil wir in andern Ländern Menschen in ihrer Armut beistehen wollten. Das gemeinsame Tun hat uns eng verbunden.

Wir beiden Alten sind sehr glücklich, dass wir sooo lange mit einander leben durften. Ja, natürlich in großer Liebe und Treue. Das hört sich aber so ernst und feierlich an. Eigentlich waren wir auch immer verliebt in einander und in unsere Kinder. Später auch in die Enkelkinder und in deren Mütter. Wenn man verliebt ist, dann scheinen auch in dunklen Tagen Lichter, und es tönt eine leise Musik. Es ist einfach schön, zu leben, auch wenn es manchmal nicht leicht ist.

Warum wir diesen Brief geschrieben haben?

Nochmal:

Um euch zu danken und zu sagen, dass es schön bei euch war. Noch haben wir den Verstand einigermaßen bei einander. Das kann sich schnell ändern. Die längste Zeit des Lebens haben wir hinter uns. Es liegt noch ein ganz schweres Stück vor uns. Großvater und Großmutter müssen noch Abschied von einander nehmen.

Vielleicht müsst ihr uns zu euch nehmen und vielleicht pflegen. Dann werden wir euch lästig sein. Wir hoffen nur, dass wir nicht gar zu garstig sind.

Heute will ich diesen Abschiedsbrief mit ganz vielen, vielen guten Gedanken schließen.

Eure Großmutter

PS: Nach dem Durchlesen habe ich das Gefühl, ich müsste das Ganze noch einmal und besser schreiben. Aber bitte, findet dieses Machwerk ruhig drittrangig, nur verlangt nicht, dass ich es noch einmal anfange!


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